: Unrecht und Wiedergutmachung
Jan Philipp Reemtsma und Winfried Hassemer haben eine ausgezeichnete interdisziplinäre Studie über Verbrechensopfer publiziert
Zwei Herren treffen sich mehrfach: ein Jurist mit sozialphilosophischem Hintergrund und ein Sozialphilosoph, der sich mit dem Recht vertraut gemacht hat. Der Jurist, Richter am Bundesverfassungsgericht, hat sich auf Strafrecht und Strafverfolgung spezialisiert – den Sozialphilosophen beschäftigten schon lange Gewalt und Terror im 20. Jahrhundert. Er wurde selbst zum Opfer einer schrecklichen Gewalttat, einer erpresserischen Entführung, die er glücklich überlebte. Sie ist seither für ihn Gegenstand intensiver Selbstbefragung sowie Anlass des Nachdenkens über Täter und Opfer von Verbrechen.
Nun haben die beiden Herren, Winfried Hassemer und Jan Philipp Reemtsma, die Ergebnisse ihrer gemeinsamen Überlegungen über Straftäter und deren Opfer veröffentlicht. „Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit“ folgt zwar ihrer wissenschaftlichen Arbeitsteilung, indem Hassemer für die in engerem Sinn juristischen und kriminalpolitischen, Reemtsma für die philosophischen, psychologischen und gesellschaftlichen Fragestellungen verantwortlich zeichnet. Die Qualität des Bandes macht aber gerade das dichte gedankliche Beziehungsgeflecht aus, eine wechselseitige Aufhellung der Argumente. Kurz: der seltene Fall einer gelungenen interdisziplinären Arbeitsweise.
Ausgangspunkt für das Unternehmen ist die These, dass sich in Deutschland während der beiden letzten Jahrzehnte ein dramatischer Perspektivwechsel im Verhältnis von Tätern und Opfern vollzogen hat. Fristete früher das Opfer ein Schattendasein im materiellen wie im Strafverfahrensrecht, so steht es jetzt im Licht der Öffentlichkeit. In einem historischen Durchgang ruft Reemtsma in Erinnerung, wie stark das bloße Opfer auf Misstrauen und Ablehnung seitens der Umwelt stieß – im Gegensatz zum Märtyrer für eine als gerecht empfundene Sache.
Für Reemtsma bildet der nazistische Massenmord an den Juden die Wasserscheide. Erstmals sorgen Überlebende kraft ihres Zeugnisses für nachhaltige, mitfühlende Aufmerksamkeit gegenüber den Opfern. Und die Erschütterung der den Tätern nachfolgenden Generationen bringt es angesichts dieser zivilisatorischen Katastrophe mit sich, dass diese Aufmerksamkeit bis heute anhält. Reemtsma vermeidet es, sich mit den problematischen Begründungen auseinander zu setzen, die die Aufwertung der Opferrolle begleiteten, also der These von der historischen Einzigartigkeit des deutschen Judenmords. Aber er hält fest, dass der Holocaust die notwendige Bedingung für den Umschwung war. Nur vor diesem Hintergrund konnten die Menschenrechte ihren Siegeszug antreten, konnte die Frauenbewegung, Jahrzehnte später, den weiblichen Opfern männlicher Gewalt Gehör verschaffen, konnte schließlich mit dem Opferschutzgesetz von 1985 ein erster juristischer Durchbruch erzielt werden.
Was steht einer stärkeren auch rechtlichen Hinwendung zu den Verbrechensopfern im Wege, wie weit kann das Gesetz den Opfern entgegenkommen, ohne die Balance mit den Rechten des Angeklagten in der Verfolgung und im Prozess zu verlieren? Handelt es sich etwa um ein Nullsummenspiel, in dessen Verlauf das Opfer gewinnt, was der Angeklagte verliert?
Winfried Hassemer verweist auf widersprüchliche Tendenzen im Feld zwischen Kriminologie, Kriminalpolitik, Strafverfahrens- und Strafrecht. Die empirisch orientierte Kriminologie hat herausgearbeitet, dass es dem Opfer weniger auf die Bestrafung selbst als auf die „normative Klarstellung der Fronten“, also auf Anerkennung erlittenen Unrechts und auf Wiedergutmachung, ankommt. Die Kriminalpolitik hingegen konzentriert sich nicht auf die realen, sondern auf virtuelle Opfer. An die Stelle der Verbrechensgefährdung setzten die Sicherheitsfetischisten die Verbrechensfurcht, um groß angelegte, aber grundrechtlich bedenkliche Projekte der Verbrechensbekämpfung durchzubekommen. Dabei ist das scheinbar allgegenwärtige Verbrechen in Wirklichkeit (statistisch) rückläufig.
Auch zwischen Strafrecht und Strafverfahrensrecht existieren hinsichtlich des Stellenwerts der Opfer Widersprüche. Das materielle Recht ist notwendig täterzentriert, im Strafverfahrensrecht hingegen haben sich mit der Nebenklage und dem Täter-Opfer-Ausgleich neue Instrumente entwickelt, die dem Opfer nützlich sein können, ohne die Rechte des Angeklagten zu beschneiden. So vorsichtig, so zurückhaltend Hassemer die Erfolgschancen dieser neuen Instrumente einschätzt, so eindeutig ist sein Urteil über Politiker, die die Fahne eines „Grundrechts auf Sicherheit“ schwingen. Denn sie machen das konkrete Opfer einer Straftat lediglich zum Vehikel ihrer Absicht, den Sicherheitsstaat durchzusetzen. Ein Hinweis auf den Bundesinnenminister wäre hier angemessen gewesen.
Nicht Rache, so Reemtsma, wünscht sich das Opfer, sondern Genugtuung. Wenn Strafverfolgung unterbleibt, besteht die Gefahr, dass die Opferrolle sich lebenslang traumatisierend festsetzt. Aber auch der Prozess gegen die (mutmaßlichen) Täter kann zu einer zweiten Viktimisierung (Einsperrung in die Opferrolle) führen. Was Reemtsma und Hassemer über den aktuellen Gesetzesstand hinaus vorschlagen, um dieser Gefahr zu begegnen, ist recht zurückhaltend. Allzu wenig findet sich bei den Autoren über die praktischen Erfahrungen mit dem Opferschutz im Ermittlungsverfahren und im Prozess. Damit auch wenig zur Bewertung der Forderungen, die zum Beispiel zur Erweiterung der Opferrechte bei der Nebenklage erhoben werden.
Speziell zum Schutz der Opfer von Sexualdelikten liegt hier ein von Friesa Fastie herausgegebener Sammelband vor. Wie sollen und können (verletzte) Zeugen in Ermittlungs- und Strafverfahren schonend behandelt werden, wie soll man mit Kindern bei der Polizei und vor Gericht vorgehen? Welche sozialpädagogischen Hilfen sind zur Hand? Dies sind die Themenschwerpunkte des Bandes, den die Interessierten am besten mit Reemtsmas und Hassemers ausgezeichneter Untersuchung gemeinsam lesen sollten. CHRISTIAN SEMLER
Winfried Hassemer/Jan Philipp Reemtsma: „Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit“, 232 Seiten, C. H. Beck Verlag, München 2002, 22,90 € Friesa Fastie (Hg.): „Opferschutz im Strafverfahren. Sozialpädagogische Prozessbegleitung bei Sexualdelikten“, 408 Seiten, Verlag Leske und Budrich, Opladen 2002, 22,80 €
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