: Kein Nachschwätzer
Ivan Illich war ein weltberühmter Pädagoge. Nachruf auf einen liebenswürdigen Selbstdenker und Weltveränderer
Ivan Illich ist gestorben. Als ich zuletzt sah, es ist einige Jahre her, hatte er ein Geschwulst im Gesicht, so groß wie ein Hühnerei. Er kam nicht auf Idee, es sich wegoperieren zu lassen. Leben war für ihn nie ohne Schatten. Leidenschaft konnte er sich ohne Leiden nicht vorstellen. Ivan Illich war treu, verlässlich, ein Menschensammler. Er war einer der geistigen Aristokraten, eine Spezies, die wenig Nachwuchs hat. Was an ihnen so fasziniert ist ja, dass man nicht fragt, was sie sind, sondern wer sie sind.
Geboren am 5. September 1926, aufgewachsen in Wien. Der Vater war Katholik, die Mutter Jüdin, die sich evangelisch taufen ließ. Er studierte zuerst Chemie, dann Philosophie und Theologie am Collegium Romanum, der päpstlichen Lehranstalt. Alle Abschlüsse bestand er summa cum laude. 1950 wurde er zum Priester geweiht.
Der 25-Jährige wird nach Princeton und Harvard eingeladen, und gibt seine akademischen Pläne abrupt auf, als er in New York mit dem Elend der Puertoricaner konfrontiert wird. Ivan Illich wirft, wie mehrfach in seinem Leben alles um, arbeitet als Armenpriester in Manhattans Upper West Side. Er will eben kein Christusepigone sein, kein gesalbter Nachschwätzer. Seine Passion wird mehr und mehr, die Welt ändern zu müssen.
Nach wenigen Jahren als Priester in den Slums wird er Vizekanzler der katholischen Universität Santa Maria in Puerto Rico. Man nennt ihn bald den Rousseau Lateinamerikas. 1960 gründet Illich seine eigene „Denkerei“, wie er sie nannte, aus der später das internationale Forschungszentrum Cidoc in Cuernavaca, Mexiko, wird. In dieser Zeit wurde er als Bildungskritiker weltberühmt, etwa mit dem Buch „Schulen helfen nicht“, doch ist er nicht bei diesem Thema stecken geblieben. Nach zehn Jahren löst er seine Denkerei auf, weil er ahnte, dass man die unvergleichbare Aura dieses Ortes nicht auf Dauer erhalten kann. Institutionen verklumpen.
Inzwischen hatte er alle priesterlichen Würden abgelegt, entwirft eine Kritik am Schulsystem und später an der modernen Medizin. Die Schule sei zu einer der mächtigsten Fesseln menschlicher Intelligenz und Freiheit und die Medizin zur Hauptgefahr für die Gesundheit geworden. Der Verkehr rase in den finalen Stau. Seine Gegenvorschläge hießen Selbstbegrenzung und die Kultivierung einer „konvivialen Technik“. In den 70er-Jahren war er einer der meist beachteten Kritiker von Technik und Bildung. Er prophezeite schon das Ende des Industriezeitalters, als erst wenige Nachrufe auf diese Epoche gehalten wurden.
In den vergangenen Jahren ist es leise um ihn geworden. Er zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück und übernahm Gastprofessuren vor allem in Bremen, wo er schließlich eingebürgert wurde. In einer Villa in Bremens Ostertorviertel, die er mit Freunden bewohnte, gab es berühmte Spagettiessen, Hausmusik und vor allem Gespräche. In der Hausbibliothek liegt das Exemplar einer Festschrift, die seine Freunde für ihn vor 11 Jahren zum 65. Geburtstag geschrieben haben. Sie ist gedruckt, aber es gibt nur ein einziges Exemplar.
REINHARD KAHL
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