piwik no script img

Zwischen Flut und Flucht

„Wir haben später mal Karten aus DDR-Zeiten gesehen. Da sitzen wir sozusagen im Wasser“

aus Röderau JULIA KRITTIAN

Ein bisschen schämt sich Viola Jahn ihres neuen Wohnzimmers. „Das ist unser Büro“, entschuldigt sie die auf dem Laminatboden gestapelten persönlichen Unterlagen der Familie. Schränke haben die Jahns noch nicht. Die wenigen Möbel sind abgenutzt, verstohlen rückt die 43-Jährige den Beistelltisch zurecht. Unter seinem linken Fuß klemmt doppelt gefaltete Pappe, sonst wackelt er. Jahns bekamen keine Vorwarnung. Völlig unerwartet brach die Elbe am 16. August über ihr Zuhause und ganz Röderau-Süd herein. „Im Dummglauben haben wir gedacht, so schlimm wird es schon nicht kommen“, sagt Viola Jahn. Nun sitzt die Familie in einer Dreizimmerwohnung, eine Notunterkunft im Plattenbau, eingerichtet mit Spendenmöbeln.

Die freigesetzten Wassermassen machten nicht nur die Jahns obdachlos. Doch während anderswo der Wiederaufbau vorangetrieben wird, hängen in dem verlassenen Zuhause der Familie in Röderau-Süd immer noch die Rohre aus der Wand. Kein Bauland in Sachsen ist so stark gefährdet wie der kleine Ortsteil bei Riesa. Eine Untersuchung des sächsischen Umweltministeriums ergab, dass sich eine ähnliche Katastrophe hier alle fünf bis 20 Jahre wiederholen könnte. Am 19. November hat die sächsische Staatsregierung deswegen einen Notplan präsentiert: Sie möchte den Ortsteil umsiedeln, den Bewohnern soll großzügig geholfen werden (siehe Kasten). Die meisten hatten vor der Entscheidung aus Dresden eigentlich nie gehen wollen.

Familie Jahn will gehen. „Wir haben viel Kraft und Zeit in unser Haus gesteckt, aber wenn ich hinten zum Fenster schaue und das Wasser sehe, da hält mich nichts mehr“, erklärt Viola Jahn. Das gesamte Ersparte hat die Familie damals in den Kauf des Grundstücks gesteckt. Beim Hausbau legten alle Hand an: Den Hof hat der älteste Sohn Rico allein gepflastert. „Wir waren das einzige Fachwerkhaus am Ort“, sagt Viola Jahn. Nun ist das Haus am Vorwerk 4 unbewohnbar. „Wirtschaftlicher Totalschaden“, heißt das in der Sprache der Gutachter.

Andere hatten mehr Glück. Nur einige Straßen vom Jahn’schen Fachwerkhaus entfernt liegt der Fährweg. Auch hier liefen Keller und Erdgeschoss voll, doch es entstanden keine irreparablen Schäden. Die Vorgärten sind frisch geharkt, feine Linien ziehen sich durch die neu aufgeschüttete Erde, ein tönernes Nilpferd steht neben einer Gänseliesel. In den Häusern liegt der Geruch von Sägespänen in der Luft, die ersten Dielen werden neu verlegt. Dass sie nun alles wieder aufgeben sollen, trifft die Bewohner der Straße fast genauso wie das Wasser selbst.

„Nach der Flut hat man uns versichert, wir hätten ein Recht, hier zu leben“, empört sich Elke Horn. „Baut auf, baut auf, haben die aus Dresden uns gesagt.“ Trotzig klammert sich die 58-Jährige an die Worte der Politiker.

1994 ist Elke Horn mit ihrem Mann in den Fährweg gezogen. Die Straße ist die älteste in der kurzen Geschichte von Röderau-Süd. Die Anwohner duzen sich, feiern Straßenfeste zusammen. Der gemeinsame Wiederaufbau hat sie zusammengeschweißt: Aufgeben wollte hier niemand. Gunther Horn geht nächstes Jahr in Rente, das Haus war seine Altersvorsorge. Was nun über das Ehepaar Horn hereinbricht, ist in ihren Augen „der blanke Horror“. Wer bleibt, der verliert nach dem Entschluss aus Dresden jeglichen Anspruch auf staatliche Hilfe, wenn das Wasser einmal wiederkommt. Das allein triebe die Fährweger nicht weg, aber nun ist die Aussicht hinzugekommen, alle fünf bis 20 Jahre das Wasser im Wohnzimmer stehen zu haben.

Für die Jahns ist die Sache ohnehin klar. Ihnen, die gehen wollen, gibt Sachsen die Mittel, sich an anderer Stelle ein Zuhause aufzubauen. „Die wollen uns ein bisschen das Maul mit Geld stopfen“, sagt Viola Jahn, und sie sieht nicht so aus, als sei sie böse darüber.

Tatsächlich war es das Regierungspräsidium Dresden, das Anfang der Neunzigerjahre den Bau von Röderau-Süd genehmigte. Dabei hatte das Landratsamt Riesa-Großenhain die Bebauung abgelehnt, und auch vor der Wende waren die DDR-Behörden dagegen. „Wir haben später bei einer Freundin mal Karten aus DDR-Zeiten gesehen“, sagt Viola Jahn, „da sitzen wir sozusagen mitten im Wasser.“ Sachsen hätte demnach mit einer Klagewelle aus Röderau-Süd rechnen müssen. Das weiß auch Viola Jahn. Sie sagt: „Wir müssen wohl was unterschreiben, dass wir keine Schuldigen mehr suchen. Aber das ist mir dann auch egal.“

Im Plattenbau findet es die Familie schrecklich. Viola Jahn ist schon seit Jahren arbeitslos, in Röderau-Süd verbrachte sie jede freie Minute im Garten. „Das war meine Welt“, schwärmt sie. Geblieben sind einige Topfpflanzen und die wenigen Fotos, die die Flut überlebt haben. Den Teich sieht man darauf, gesäumt von Bambus, Sonnenblumen, im Wasser spiegeln sich lila Hyazinthen. Sie will bald wieder in einem Garten werkeln können. Jetzt, im Plattenbau, sagt sie, schaut sie so viel Fernsehen wie noch nie.

Die Familie hat sich bereits ein Grundstück im nahe gelegenen Riesa reserviert: Am Kalkberg heißt das Neubaugebiet. Es liegt am Hügel, Jahns wollen hoch hinaus. Nie wieder Wasser. Sie waren die Ersten, die es hier herzog, mittlerweile sind einige der Grundstücke am Kalkberg an frühere Nachbarn aus Röderau-Süd vergeben.

Von solchen Plänen ist Peter Fichte im Fährweg 9 noch weit entfernt. Die Kachel im frisch tapezierten Eingangsbereich hat er eigens anfertigen lassen: „Hochwasser – August 2002“ ist darauf zu lesen. Blaue Wellen deuten an, dass hier das Wasser stand, auf Augenhöhe. Stolz wollte Peter Fichte in ein paar Jahren auf die Kachel zeigen können und dann auf all das, was er wieder aufgebaut hat. „Ich bleibe, daran führt kein Weg vorbei“, stellt der Vermögensberater fest. Er sagt das allerdings nur zögerlich.

Bisher baute der 34-Jährige auf ein früheres Gutachten. 1991 errechneten Experten, dass ein Hochwasser wie diesen Sommer nur alle 500 Jahre zu erwarten sei. Die jetzt in Dresden vorgelegten Zahlen verhundertfachen die Gefahr für Röderau-Süd. Die Bewohner des Fährwegs verstehen die Welt nicht mehr, sie fühlen sich von den Politikern erpresst. „Die sollen mit offenen Karten spielen“, fordert Elke Horn, „aber von Anfang an. So kann man doch nicht mit uns umgehen.“ Die 58-Jährige ist so etwas wie die Sprecherin der kleinen Truppe geworden. Verordnungen, Gesetzesvorlagen, Gutachten, sogar ein Hochwasserlexikon, alles hat sie in einem roten Leitz-Ordner gesammelt. Doch auch der enthält keine Sicherheiten. Jetzt warten alle darauf, dass ihnen die sächsische Staatsregierung die neuen Untersuchungsergebnisse in vollem Umfang zur Verfügung stellt und erläutert. Die Ungewissheit sägt an den Nerven. Elke Horns blaue Augen hinter der metallenen Brille sehen misstrauisch aus. „Wir wollen eine Sanierung des Damms, damit könnten wir wieder sicher leben“, fordert ihr Ehemann stellvertretend für alle.

Viola Jahn hat dafür kaum Verständnis. Das viele Geld aus Spenden und vom Staat nun wieder ins Wasser zu setzen, käme für sie nie in Frage. Die kleine Frau im apfelgrünen Pullover gestikuliert aufgeregt. Die, die bleiben wollen, seien doch verbohrt, schimpft sie. Zutiefst dankbar müsse man den Politikern sein. „Wenn man die Augen zumacht und immer nur Wasser sieht, das ist einfach unerträglich“, Viola Jahn muss schlucken, kurzzeitig entlädt sich die Angespanntheit der letzten Monate. Verschämt wischt sie sich die Tränen aus den Augen. „Mein Mann wollte alles aufgeben“, erzählt sie. Es dauert nur einen Augenblick, dann schaut sie wieder nach vorn. Es gibt viel zu tun, Gutachten müssen eingeholt, Baupläne verglichen werden. Sie räumt Gläser weg. Am Abend vorher war Besuch da, gemeinsam hatten sie auf den Beschluss der Dresdner Regierung angestoßen. Endlich gibt es für die Jahns wieder Grund zum Feiern.

Auch im Fährweg soll am kommenden Tag gefeiert werden, aus anderem Anlass: ein runder Geburtstag, mit über 50 Gästen. Wie oft sie hier noch feiern werden, weiß keiner; die Stimmung ist gedrückt. Wenn die, die bleiben wollten, die Augen schließen, sehen sie keine Fluten. Die Vorstellung, dass ihre gerade neu aufgebauten Häuser plattgemacht werden, ist den Fährwegern im Moment unerträglicher als die Angst vor dem Wasser.

Das leer stehende Fachwerkhaus am Vorwerk 4 wird wohl unter den ersten sein, die die Abrissbirne trifft. Familie Jahn hat mit ihrem Haus und Röderau-Süd abgeschlossen. Dieselbe Firma wie damals soll auch das neue Haus bauen. Vielleicht wird es ja wieder ein Fachwerkhaus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen