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Tropicalismo an die Macht

Die Ikone brasilianischer Popmusik, Gilberto Gil, soll als Kulturminister die verfahrene Kulturpolitik auf Trab bringen

„Panis et Circensis“ heißt ein Gilberto-Gil-Hit aus den Sechzigerjahren. Der Titel passt nicht schlecht zur derzeitigen Strategie des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Da die Machtverhältnisse kein rasches Umsteuern in der Wirtschaftspolitik erlauben, setzt er auf ein breit angelegtes Antihungerprogramm. Zur Amtseinführung an Neujahr steigt in Brasília ein rauschendes Volksfest.

Auch die Nominierung von Gilberto Gil als Kulturminister ist erst einmal ein Symbol für den erhofften Wandel. Der 60-jährige Komponist und Interpret aus Salvador da Bahia ist eines der Aushängeschilder brasilianischer Popmusik. Seine erste Platte nahm er 1962 auf, zahlreiche Fernsehauftritte machten ihn landesweit bekannt.

Ab 1967 verschmolz er als führender Exponent der Tropicália-Bewegung einheimische Klänge mit Elementen der Rockmusik. Ähnlich wie Bob Dylan in den USA schockierten die Tropikalisten in Brasilien die politisch korrekten AnhängerInnen des engagierten, aber ästhetisch konservativen Liedguts. Bei einem legendären Auftritt in São Paulo wurden die E-Gitarren von Gil & Co. mit Tomaten beworfen. Gilberto Gil, Caetano Veloso, Tom Zé und die Rockband Mutantes sahen sich in der Tradition der brasilianischen Modernisten der Zwanzigerjahre, die ebenso respektlos die westliche Hochkultur „kannibalisiert“ hatten. Die Generäle der Militärdiktatur ließen Gil und Veloso Ende 1968 festnehmen. Nach einigen Monaten Haft gingen sie für drei Jahre ins Exil nach London.

In den Siebzigerjahren popularisierte Gil die Volksmusik seiner Heimat und den Reggae. Ab 1989 war er als Stadtrat in Salvador da Bahia aktiv und unterstützte Lula im ersten Präsidentschaftswahlkampf. Er trat der Grünen Partei bei und sponserte mehrere Umweltprojekte.

Mittlerweile ist der ergraute, aber ungebrochen kreative Gil zur einer regelrechten Institution der brasilianischen Popmusik im In- und Ausland avanciert. Seine letzte Erfolgs-CD „Kaya N’gan Daya“ ist eine Hommage an Bob Marley. Kritiker hielten ihm allerdings vor, sich allzu eng an den Originalversionen des Jamaikaners orientiert zu haben.

1994 und 1998 machte sich der umtriebige Künstler für den Sozialdemokraten Fernando Henrique Cardoso stark. Auch deswegen löste seine jetzige Nominierung in der Arbeiterpartei PT nicht nur Begeisterung aus. Umstritten ist jedoch in erster Linie, ob nicht ein erfahrener Kulturmanager eher dafür geeignet wäre, die verfahrene Kulturpolitik auf Vordermann zu bringen.

Am Montag hatte Gil diesen Zweifeln neue Nahrung gegeben: Das „spärliche“ Ministergehalt von umgerechnet 2.300 Euro müsse er durch Wochenendauftritte aufbessern, sagte er. Die staatliche Kulturbürokratie solle weniger elitär agieren als bisher und stärker mit den strategischen Ressorts Erziehung und Kommunikation verknüpft werden, ist aus Künstlerkreisen zu hören. „Die Mehrheit der Bevölkerung muss Zugang zur Produktion und zum Konsum von Kulturgütern erhalten“, fasst der PT-Politiker Luiz Marques zusammen. „Gilberto Gil kann diesen Prozess glaubwürdig anführen.“ Gils Kollegin Rita Lee pflichtet ihm bei: „Gilberto ist ein Typ, der seine Antennen nicht nur auf der Bühne ausgefahren hat. Er hat immer noch das Zeug, um die Eingefahrenen aus der Fassung zu bringen.“

GERHARD DILGER

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