: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst?
Ein Ruck geht durch das Land. Viele sagen es nun laut: Muslime sind ätzend. Das zurückliegende Jahr war das Jahr des Ressentiments gegenüber dem Islam. Mit Wut und Stolz grenzt sich Europa ab. Sind die Ressentiments ein Kompass der Bedrückten oder Seismograf realer Konflikte? Betrachtungen eines Gefühls
von EDITH KRESTAund EBERHARD SEIDEL
„Ich habe die Nase voll“, erregt sich Agnes Meier. Sie ist Lehrerin an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt in Berlin-Kreuzberg. 50 Prozent ihrer Schüler kommen aus Einwandererfamilien. Vor allem die Mischung, junge männliche Schüler aus der Unterschicht und dem islamischen Kulturkreis, bringt sie zur Verzweiflung. „Die nehmen mich als Frau nicht ernst, verachten mich, zeigen keinerlei Engagement im Unterricht und finden sich nach der Schule in Schlägertrupps wieder“, klagt Meier. „Wenn ich sie darauf aufmerksam mache, dass sie so keinerlei Perspektive in Deutschland haben, dann antworten sie mir: ‚Ick geh Sozialamt‘.“
Die Pädagogin ärgert, dass sich die türkischen und palästinensischen Schüler von dieser Gesellschaft immer mehr abwenden, andererseits aber auf staatliche Hilfe setzen. Agnes Meier weiß, dass die Jugendlichen aus problematischen Familien kommen und dass ihre Eltern genauso hilflos sind wie sie selbst. Aber am liebsten hätte sie nichts mehr mit ihnen zu tun. Denn sie verspüre „nur noch Aggressionen“. Auch eine Fortbildung in interkultureller Pädagogik, an der sie seit zwei Monaten teilnimmt, hilft wenig. Im Gegenteil. Ihre Verzweiflung wächst, wenn „irgendein Intellektueller an der Universität das Lied auf Multikulti singt und ganz offensichtlich keine Ahnung von den Realitäten hat“.
Agnes Meier, Grünen-Wählerin, weit gereist, weltoffen und tolerant, stößt an Grenzen. Sie erschrickt über ihren Hass. Beschämt ertappt sie sich bei Gedanken, die sie bislang mit den Namen Franz Schönhuber, Le Pen und Jörg Haider verbunden hat. Schuldbewusst behält sie folglich ihre Gefühle und Gedanken für sich. Sie befürchtet, dass ein offener Austausch über ihre Alltagserfahrungen von anderen als Rassismus abgestempelt werden könnte. So leidet sie still vor sich hin am täglich größer werdenden Ressentiment.
Agnes Meier steht mit ihrer Zerrissenheit nicht allein. Wie ihr geht es offensichtlich vielen. Nur so lässt sich der phänomenale Erfolg von Oriana Fallacis Essay „Die Wut und der Stolz“ erklären, der sich in den letzten Monaten in Europa millionenfach verkauft hat. In Fallacis Pamphlet, unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 geschrieben, werden die 15 Millionen in der EU lebenden Muslime als rückständige „Kameltreiber“ bezeichnet. Und sie bedrohen die Grundfesten der westlichen Zivilisation. Das Buch fordert das Ende bürgerlicher Denk- und Gefühlsblockaden. Die große Dame des investigativen Journalismus dient vielen als intellektuelle Gewährsfrau, dass die eigenen, bislang unterdrückten Ressentiments stimmen. Fallacis Buch verspricht Läuterung, indem sie die diffusen Ressentiments zum legitimen Instrument im Kampf der Kulturen erhebt: „Fallacis Buch ist die grelle Inszenierung einer fast kreatürlichen Angst vor dem plötzlich bedrohlich gewordenen Fremden, die wir meist gar nicht mehr an uns heranlassen wollen und die wir mit so vielen aufgeklärten Erklärungen betäuben wollen“, meint zum Beispiel Heribert Seifert in einer Rezension im Deutschlandradio.
Doch Fallacis Ressentiments gehen über die „kreatürliche Angst vor dem Fremden“ hinaus. „Die Wut und der Stolz“ ist ein ungebremster Aufruf zum blinden Hass und das meistverkaufte rassistische Machwerk der letzten Jahrzehnte. Die zornige alte Frau erläutert beispielsweise einem Polizisten, wie sie somalische Flüchtlinge samt deren Zeltlager aus ihrem geliebten Florenz zu vertreiben gedenkt: „Wenn ihr bis morgen nicht das verdammte Zelt wegräumt, zünde ich es an. Ich schwöre bei meiner Ehre, dass ich es anzünde.“ Hätte „Die Wut und der Stolz“ nicht Oriana Fallaci, sondern Horst Mahler verfasst, wäre das mit großer Wahrscheinlichkeit ein Fall für die Staatsanwaltschaft.
Das zurückliegende Jahr ist ein Jahr des entsicherten bürgerlichen Ressentiments gegenüber dem Islam. Und Massenmörder im Namen der Religion schüren die Angst und nähren so diese Ressentiments mit immer neuen brutalen Anschlägen. Nicht nur der italienische Staatspräsident Berlusconi, der renommierte Historiker Hans-Ulrich Wehler oder Oriana Fallaci meinen deshalb lautstark, dass Türken und Muslime nicht integrierbar und Sprengstoff für die westliche Kultur seien. Sie sprechen damit vielen aus der Seele. Ein Ruck geht durch Europa: Endlich darf es gesagt werden!
Was als Tabubruch daherkommt, zeichnet sich indes nur durch seine emotionale Radikalität und gedankliche Schlichtheit aus. Denn in Wirklichkeit wird seit Jahren sehr kontrovers über die Probleme der Zuwanderungsgesellschaft diskutiert. Ein Blick in die Archive bundesdeutscher Zeitungen offenbart die Fülle von Artikeln, die den zur Emanzipation unfähigen türkischen Mann genauso diskutieren wie den undurchsichtigen Araber, die entgrenzten Jugendlichen der zweiten und dritten Generation, die als Drogendealer und Schläger unsere Innenstädte verunsichern. Kein menschliches Defizit wurde den deutschen Lesern vorenthalten. Auch ein Besuch an den Stammtischen und in den intellektuellen Salons dieser Nation zeigt: Nichts Böses und Schlechtes der Neudeutschen ist uns fremd.
Warum haben trotzdem so viele das Gefühl, ihre Abwehr gegenüber Fremden und der Redefluss darüber würde durch Wächter der politischen Korrektheit unterdrückt? Offensichtlich gibt es vor allem in Schichten, die sich ihre Bildung und Aufgeklärtheit zu Gute halten, Schwierigkeiten, mit den eigenen Ambivalenzen umzugehen. Sie sind über sich selbst verunsichert, wenn sie spüren, dass sie nicht nur aus Verstand, sondern auch aus Affekten, Ängsten und Instinkten bestehen. Dabei ist das Unbehagen an der fremden Kultur oder dem Habitus von Angehörigen einer anderen sozialen Schicht zunächst völlig normal.
Das Fremde verunsichert. Es kann Angst machen. Die „kreatürliche Angst“ vor den Fremden packt uns, wenn der Fremde ins eigene Haus eindringt und die mühsam ausgehandelte Hausordnung nicht einhält: im Geschlechterverhältnis, der Kleidung, im Erziehungsstil, Lifestyle, im öffentlichen Auftreten. Haust er dann auch noch in der wenig repräsentativen Kellerwohnung, geht jeder Exotismus, jede Faszination verloren. Eine angstfreie Debatte über das Unbehagen an der Entwicklung der multikulturellen Gesellschaft darf das persönliche Ressentiment nicht von Beginn an denunzieren. Das Ressentiment muss gesagt und gesehen werden, denn es ist ein Seismograph dafür, wo Konfliktlinien verlaufen, Ängste sitzen. Es gefährdet jedoch die Grundlagen einer zivilen Gesellschaft, wenn sich die Debatte auf der Ebene der persönlichen Emotion verfängt. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Der Islamwissenschaftler Navid Kermani schreibt: „Ist das Ressentiment erst einmal als politische Waffe eingeführt, ist es eine bloße Frage des Kalküls, auf wen man sie richtet.“
Vor allem bei einer undurchsichtigen Gemengelage wie nach dem 11. September blühen längst gehegte Ressentiments auf. Und Millionen von Muslimen in der Nachbarschaft werden zum Sicherheitsrisiko. Wer sich nicht mehr als Herr im eigenen Haus, wer sich von den Fremden gestört fühlt, verfällt schnell kulturalistischen Deutungen.
Es steht jedem frei, zu sagen: „Ausländer bedrohen unsere Sicherheit und unseren Wohlstand. Muslime verachten unsere Demokratie.“ Denn das Ressentiment ist auch der Kompass der Bedrückten und Überforderten. In einer unübersichtlichen Welt schafft es kurzfristig emotionale Sicherheit, in dem es klare Trennlinien zwischen Gute und Böse, Wir und Ihr zieht. Wer dies allerdings öffentlich tut, muss sich Nachfragen gefallen lassen und damit rechnen, mit Argumenten und Tatsachen widerlegt zu werden. Dies vorschnell als Attacke politischer Tugendwächter abzutun, ist nichts anderes als intellektuelle Faulheit.
Solange Ressentiments in bildungsfernen Schichten oder als Problem jugendlicher Subkulturen wie den rechten Skinheads verortet werden, scheint für die Aufgeklärten und Emanzipierten alles einfach. Dann gilt es den geistig Armen ihre Vorurteile auszureden – mit Appellen, Ermahnungen, Begegnungsfesten und interkulturellen Unterrichtseinheiten. Schwieriger wird es, wenn man den Splitter im Auge des anderen als Balken im eigenen Auge bemerkt.
Was tun mit den eigenen Ressentiments und Aggressionen, wenn man sich als aufgeklärter Zeitgenosse sieht? Zwei Formen der Verdrängung boten sich in der Vergangenheit an: Die einen beruhigten ihr Gewissen im Aufstand der Anständigen nach brutalen Übergriffen auf Ausländer in Deutschland. Die anderen, vor allem in kirchlichen und linken Kreisen, übten sich in kritikloser Parteinahme für Minderheiten. Die einen gingen für die Opfer rassistischer Übergriffe auf die Straße. Die anderen verteidigen vom Kopftuch bis zum religiösen Fanatismus alles Befremdende als legitimen Ausdruck einer anderen Kultur und Identität. In beiden Fällen wird guter Wille gezeigt, das Fremde aber nicht wirklich ernst genommen. Ernst genommen wird es dann, wenn es kritisch auf dem Prüfstand steht, wenn man sich daran reibt, miteinander streitet und seine Abwehr sagen darf.
Türkische Jungs können ätzend sein und die Würde und das Selbstbild einer modernen Frau nachhaltig erschüttern. Das Kopftuch ist zu Recht umstritten, denn es wirkt in deutschen Schulen mittelalterlich. Die palästinensische Großfamilie ist in der flexiblen Gesellschaft längst unzeitgemäß und sozial oft nicht zu verantworten. Der Islam stößt mit seinem Anspruch, das Alltagsleben der Gläubigen zu gestalten, in einer laizistischen Gesellschaft zwangsläufig auf Widerstand. Migrantenkinder mit fehlenden Deutschkenntnissen sind ein Problem für das Lernklima einer Klasse.
Nicht die Benennung von Missständen ist fremdenfeindlich, sondern wenn sie ethnisch und nicht sozial begründet werden. Nicht die Kritik am Machismo ist rassistisch, sie wird es dann, wenn dieser als unverrückbarer Wesenszug der Türken und der Araber beschrieben wird. Nicht die kritische Beschäftigung mit dem Islamismus grenzt aus. Ausgrenzend wird sie, wenn sie nicht gleichzeitig mit einer Politik der Anerkennung des Islam korrespondiert. Nicht das geäußerte Ressentiment ist das Problem, brisant wird es erst dann, wenn es sich der reflektierten Auseinandersetzung entzieht.
Wer Misstände reduziert als ethnisch, kulturell oder religiös festgeschriebene Wesensmerkmale deutet und nicht gleichzeitig die Machtstrukturen und gesellschaftlichen Ungleichzeitigkeiten thematisiert, macht es sich einfach. Wer sich vom Gefühl der Abwehr überrollen lässt, wird hilflos. Wenn individuell empfundene Ressentiments sich zum Leitfaden kollektiven Handelns bündeln, kann die individuell empfundene Wut schnell zum Flächenbrand werden. Hass lodert heller als Argumente. Und Differenzierung ist anstrengend. Aber wer hat gesagt, dass eine offene Gesellschaft eine gemütliche Veranstaltung ist?
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