: Heiligabend allein im Wald
Horch – es raschelt! Ein Rehlein lugt zwischen den Bäumen hervor. Wie putzig – bestimmt sieht es nach, ob es mir helfen kann. Dabei will ich ihm helfen! Schließlich versperrt die Konsummentalität bei mir nicht den Blick aufs Wesentliche. Wir Aussätzigen haben ja ein feines Gespür. Ein Weihnachtsmärchen
von ULI HANNEMANN
Wunderschön ist es Heiligabend im Wald – schön grün, schön still, schön schön. Heiligabend, am späten Nachmittag, immer so gegen fünf vor halb fünf, wenn’s dunkel wird draußen, und im Wald ist es ja von Natur aus grundsätzlich noch nen Zacken dunkler, wegen der Bäume, die das Licht abschirmen, sozusagen einen Grad der Dunkelheit simulieren, den es in dieser Form gar nicht gibt, auf jeden Fall nicht zu diesem Zeitpunkt auf dem freien Feld vergleichsweise, da geh ich eigentlich immer in den Wald. Allein. Ich bin immer allein.
Darüber habe ich mich nicht selten arg gewundert, und manchmal gibt es Stunden, da möcht ich ansatzweise verzagen. Nicht dass ich mich beschweren würde – Gott wird schon irgendeinen Plan haben, warum er mir diese Prüfung auferlegt, warum er mich allein sein lässt, während alle anderen … aber bitte sehr: Es sei gut, dass ich allein sei, gerade am Heiligen Abend, dann sei es halt, fertig. Herr, befiehl – wir folgen! Geh ich eben allein in den Wald – auch gut. Ich brauch sowieso niemanden. Bin eh lieber allein, zu Weihnachten schon mal überhaupt. Nirgends kann man so intensiv den Christfrieden schmecken wie im Wald. Gewiss, ich hätte auch in die Kirche gehen können, aber da sind heute Abend so viele Leute. Die haben mich da auch nicht gern, irgendwie. Ich spüre das. Sie sagen es mir auch. Direkt in mein verwarztes Gesicht hinein – es ist, als wäre ich aussätzig. Ich bin auch aussätzig, und ne Brille habe ich noch dazu. Fehlen eigentlich bloß noch die Zahnspange und Gummistiefel.
Ich frag da schon gar nicht mehr: Wenn es Gott so gefällt, dass ich rumlaufe wie ein Zombie, wird er schon wissen, warum. Hunger und Krieg? Ich misch mich da nicht ein, Weihnachten gleich zweimal nicht. Da wollen wir nicht so ne schlechte Stimmung verbreiten – man muss auch zwischendurch mal abschalten können, finde ich. Horch – es raschelt! Ein Rehlein lugt zwischen den Bäumen hervor. Wie putzig, bestimmt sieht es nach, ob es mir helfen kann. Dabei bin doch ich es, der helfen will. Heiligabend möchte ich immer irgendjemandem helfen, deshalb gehe ich ja in den Wald: Christfrieden, Alleinsein – na ja, bin ich ja auch sonst –, Entspannung, Meditation und, als besonderer Gimmick, tatkräftige Hilfe. Das sind so meine zentralen Motive hier im Wald.
Und, man glaubt es nicht, ich finde eigentlich jedes Weihnachten auch immer eine Menge Leute, die mühselig sind und beladen. Das denkt man gar nicht, wer so Heiligabend alles im finsteren Wald rumrennt, das hält der Laie kaum für möglich. Da seh ich dann wieder, dass ich im Grunde noch total gebraucht werde. Da ist es dann plötzlich auch nicht mehr so wichtig, wie ich aussehe. Gut, ist ja auch dunkel. Kostenlose Hilfe nimmt man ja immer gerne von Onkel Uli – da ist er dann auf einmal ganz okay. Herrschaften, Herrschaften – wenn ich so ne Einstellung hätte, also nee! Das Rehlein steht noch immer stumm an seinem Platz. Ein Platzhirsch, haha – Weihnachten ist doch das Fest der Freude. Mit ein wenig mehr Spaß würde uns auch den Rest des Jahres über so vieles leichter fallen: Würden beispielsweise Mörder beim Morden mehr Lockerheit ausstrahlen, einfach mal zwischendurch nen Witz machen oder so, müssten ihre Opfer längst nicht so miesepetrig sterben. Ich sehe jetzt, dass das Rehlein keine Schuhe hat. Ich ziehe meine Stiefel aus und stelle sie ihm vorsichtig hin. Es läuft weg, wahrscheinlich Socken holen. Das ist vernünftig: Erst Socken anziehen, dann die Schuhe – so hab ich das auch immer gemacht. Socken sind gut. Das merke ich jetzt erst so richtig, als ich auf Socken langsam weitergehe. Ohne Socken wäre es noch kälter. Die kleinen Dinge des Lebens wieder richtig schätzen zu lernen, dafür ist so ein Abend wie dieser ideal. Ganz bei mir sein, mich selber spüren, bewusst erleben, wie der bestrumpfte Fuß abrollt, von den Zehen über den Ballen bis zur Ferse, unter mir die Steine fühlen und die abgebrochenen Äste. Natur. Schuhe sind auch gut, denn ohne Schuhe werden die Socken schnell nass. Das ist eine völlig neue Erfahrung.
Am besten sind die Geschenke, die man gibt, obwohl man sie selber gerne hätte. Vor mir auf dem Waldweg steht eine Ente. Sie blickt ziemlich betreten drein. Was machst du hier allein im Wald, kleine Ente, frage ich sie. Sie antwortet nicht, aber ich ahne, dass sie bedürftig ist. Sie ist barfuß und weit weg vom See. Ich ziehe meine Socken aus und versuche, sie der Ente anzuziehen. Die Ente wehrt sich – bestimmt ist es ihr unangenehm, von einem Wildfremden beschenkt zu werden. Es braucht dir nicht peinlich zu sein, wispere ich beruhigend auf sie ein, ich liebe es, Gutes zu tun – es ist doch Heiligabend, kleine Ente! Als sie die Socken endlich anhat, scheint sie beruhigt: Sie liegt am Boden und rührt sich nicht – vermutlich schläft sie und träumt vom Wasser. Zu gerne würde ich ihr auch noch Wasser schenken, aber woher nehmen? Dann habe ich endlich einen Einfall und schlage mein Wasser auf sie ab – träume süß, kleine Ente, fröhliches Fest! Hab ich’s nicht gesagt: Hastenichgesehen der ganze Wald voll mit Bedürftigen. Als wenn die das riechen würden und von überall zur Bescherung herbeiströmen.
Es ist jetzt zappenduster, aber am Himmel blinken traulich ein paar Sterne und helfen mir, mich nicht mehr gar so allein zu fühlen. Das Schenken bereitet mir große innere Befriedigung. Von meinen guten Taten wird mir mollig warm ums Herz und auch am ganzen Körper. Bloß an den Füßen nicht. Das macht nichts – man kann nicht alles haben. Gerade Heiligabend sollte man sich das ruhig mal wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Wie ein sperriger Schlafzimmerschrank verstellt die Konsummentalität heute oft den Blick auf das Wesentliche. Ich selber bin natürlich nicht so – ich würde überhaupt sagen, wir Aussätzigen haben irgendwie ein feineres Gespür für die Dinge. Keine Ahnung, woher das kommt.
Heidewitzka – ist mir warm! Den leeren Flachmann ab, zack, dort hinten ins Gebüsch. Das soll sich dann meinetwegen später dafür das Pfand abholen, ist auch Geld. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Ist euch übrigens schon mal aufgefallen, dass es im Wald meistens zwei Hauptsorten Bäume gibt? Einmal die, die immer fett was anhaben, auch im Winter, und dann so magersüchtige, die, ausgerechnet wenn’s kalt ist, ihre Klamotten wegschmeißen. Wenn ich da nicht wäre! Einer dieser traurigen Bäume trägt nun meine Jacke, der andere meinen Pullover. Zwei habe ich glücklich gemacht, die anderen gucken doof, habe ich das Gefühl. Bitte kein Neid an Weihnachten und keinen Streit! Ihr könnt euch doch einfach öfter mal abwechseln, Bäume. Und nächstes Jahr weiß ich Bescheid – da komm ich mit einem ganzen Lastwagen voll mit Anziehsachen, das verspreche ich. Keine Antwort, auch nicht von den Glücklichen. Also, ich erwarte ja nichts, aber dass da vielleicht mal einer wenigstens nur „Danke“ sagen würde …
Und da, auf einer Lichtung, sehe ich im fahlen Mondlicht ein kleines Mädchen barfuß im Schnee stehen. Es trägt nur ein dünnes Hemdchen und weint bitterlich. Ich trete näher, und die Kleine erschrickt. Ein Glück, dass ich meine Hose noch nicht längst einem frierenden Hasen oder Fasan geschenkt habe, sonst wäre das Geschrei jetzt groß – in nem Wald kann man ja auch nie wissen, da gibt’s schon manchmal Verrückte … Fürchte dich nicht, kleines Mädchen, sage ich freundlich – warum weinst du denn so? Mir ist kalt, klagt das Kind, meine Eltern sind tot, Großeltern auch, Geschwister sowieso, selbstredend, und ich bin ganz allein auf der Welt, dabei ist heute Weihnachten. Ach ja, und außerdem habe ich Sichelzellenanämie. Das klingt alles verdammt scheußlich – sofort muss ich selber weinen. Ich kaufe ihr drei Glückwunschpostkarten ab und gebe ihr meine Hose mit dem letzten Geld. Die übrigen Tiere kommen auch rum, das Rehlein, Gott, paar Karnickel, Hase, Fasan und Bäume – bloß die Ente nicht, weiß der Geier wieso. Na gut, wir brauchen sie nicht – sollen doch die Unzufriedenen abhauen, von mir aus auch auf meinen Socken. Wir anderen bilden einen Kreis, fassen uns alle an den Händen und weinen ein bisschen zusammen. Das hilft ungemein. Es gibt auch Glühwein und Tabletten für die Nerven. Später steigt die Stimmung, und wir singen gemeinsam Weihnachtslieder.
Jedes Jahr dasselbe Theater – man kennt sich schon untereinander: Gerissene kleine Pappenheimer, auf eine ziemlich spezielle Art können wir uns echt ganz gut leiden. Gegen Morgen, im Nachtbus vom Hackeschen Markt, starren mich die Menschen an, doch ich lächle nur zufrieden vor mich hin.
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