ULLA SCHMIDT MISSACHTET DIE SOZIALEN URSACHEN VON KRANKHEIT: Schnäppchen für Reiche
Geiz ist geil, Rabattkarten sind in – künftig auch im Gesundheitswesen. Fast täglich werden neue Vorschläge für Schnäppchen bei den Krankenkassenbeiträgen publik. Hält man am Ziel einer solidarischen Gesundheitsfinanzierung fest, ist die von Ulla Schmidt geforderte Bindung von Sparmotiven an gesundheitliche Ziele eine Alternative zu einem Wahlleistungsmodell, das auf Zahlungsabschläge für Gesunde hinausläuft. Aber auch ihr Konzept schafft unter dem Banner der Eigenverantwortung neue Zwänge: Fraglos sind Krankheiten durch individuelle Verhaltensänderungen beeinflussbar.
Vor allem aber bleiben sie durch die sozialen Verhältnisse bestimmt: „Arme sterben früher“ – dies gilt noch heute. Je größer die sozialen Risiken einer Gesundheitsgefährdung sind, desto weniger sind Patienten individuell in der Lage, ihnen zu begegnen. In dem Maße, wie künftig allein Rauchen, Bewegungsarmut oder Fehlernährung thematisiert werden, bleiben aber soziale Ursachen von Krankheit ausgeblendet. In den USA konnte ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Kürzung staatlicher Gesundheitsgelder und der Propagierung individueller Gesundheitsvorsorge belegt werden.
Bilden die USA bei der Gesundheitsförderung ein abschreckendes Beispiel, so sind sie in anderer Hinsicht ein diskussionswürdiges Modell: Auch hierzulande will Ulla Schmidt die Lotsenfunktion des Hausarztes stärken, indem jene weniger Kassenbeiträge entrichten, die ihn vor einem Facharztbesuch konsultieren. Parallel sollen Fallpauschalen von der Krankenhausfinanzierung auch auf die Arztpraxen übertragen werden, um das wirtschaftliche Behandlungsrisiko künftig von den Krankenkassen auf die Leistungsanbieter zu verlagern: Nur wenn Ärzte kostenbewusst arbeiten, machen sie Profit. Man muss sich die „Praxis Bülowbogen“ künftig als hoch technisierten, bürokratisierten und effizienten Dienstleistungsbetrieb vorstellen. Offen ist, ob der Arzt in seinem Patienten dann noch die Besonderheit einer Person wahrnimmt, für die häufig ein Gespräch die beste Medizin ist. HARRY KUNZ
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