Berater ohne Rat

Wir alle haben es eilig, denn wir wissen eigentlich gar nicht, warum wir hier sind: Wie arbeitsreich und tagfüllend ein Besuch auf dem Arbeitsamt für einen arbeitslosen Akademiker ohne Anspruch auf finanzielle Zuwendungen sein kann

Gegen 13.30 Uhr betrete ich das Arbeitsamt Nord an der Stralauer Allee, um mich arbeitslos zu melden. Ich fahre mit dem Fahrstuhl in den 5. Stock des renovierten Plattenbaus, in die Abteilung für Akademiker. Auf den Fluren liegt frischer blauen Linolium, streng und sauber. Zuerst wirkt alles ruhig. Ich sehe eine kleine Schlange von drei Leutchen am Anmeldetresen. Dann gehe ich darauf zu und schwupp, stehe ich in einer bauchigen Ausdehnung des Flurs. Etwa dreißig Leute sitzen schon und warten. Als Vierter in der Reihe stelle ich mich an die Anmeldung. Seit dem Studienabschluss vor einem halben Jahr ist es mein zweiter Besuch hier. Ich weiß, wie voll es um die Mittagszeit ist, aber all den Papierkram habe ich bereits beim ersten Mal erledigt. Ich spekuliere darauf, dass die Dame kurz meinen Status im Computer ändert, ohne mich ins Büro und somit in den Warteraum zu schicken.

Als ich vortrete, sage ich höflich: „Guten Tag. Ich möchte mich arbeitslos melden.“ Meine Bearbeitungsnummer habe ich dabei. Die nette Dame findet meine Datei im Computer problemlos. „Würden Sie meinen Status ändern?“, frage ich freundlich, „der Arbeitsvertrag ist zum Monatsende ausgelaufen.“ „Nein, da müssen Sie warten bis Sie aufgerufen werden. Das macht die Kollegin im Büro.“ „Gut“, sage ich zähneknirschend. „Das wird aber etwas dauern, ist Mittag“, sagt sie und bittet den Nächsten vor. Ich setze mich und warte.

Alle Akademiker im Warteraum wollen sich arbeitslos und arbeitssuchend melden. Oder sie haben einem echten Grund hier zu sein: Geld. Aber so viele scheinen es nicht zu sein, die einen Grund haben hier zu sein. Außer vielleicht der dicke Ältere mit der schlauen Brille, der vor mir in der Schlange an der Rezeption gestanden hat. Die meisten sind junge Berufseinsteiger und wahrscheinlich Geisteswissenschaftler ohne jeglichen Anspruch auf finanzielle Zuwendungen. So wie ich. Wir alle haben es eilig, denn wir wissen doch eigentlich gar nicht, warum wir hier sind.

Wir warten lange. Die Mittagspause, für die auf Zetteln um Verständnis gebeten wird, ist längst vorbei, trotzdem warten wir mit der Gelassenheit passionierter Latte-Macchiato-Trinker. Verwirrt stelle ich fest, dass selbst die, die aus dem Büro kommen, in das sie zuvor gerufen wurden, sich wieder setzen und weiter warten, bis sie in ein Büro am anderen Ende des Flurs gerufen werden. Nach dem Dicken mit der schlauen Brille bin endlich ich dran. Wieder dasselbe: Man nimmt mein Anliegen, Arbeitsloser zu werden, zwar auf, aber bittet mich abermals zu warten, bis mein individueller Berater mich berät. Ich sage, dass ich keine Beratung brauche und dass ich bereits beraten worden sei und der Berater keinen guten Rat für mich hatte und ich mich nur schnell arbeitslos melden wollte. Hilft nichts, man weiß besser, was gut für mich ist.

Wieder warte ich. Andere kommen und werden sofort aufgerufen. Im Warteraum munkelt man, sie hätten einen Termin. Als um 16.30 Uhr, eine halbe Stunde nach dem Ende der offiziellen Öffnungszeiten, nur noch fünf Wartende übrig sind, scheint sich überhaupt nichts mehr zu tun. Nachdem ich einige Runden um die Stuhlreihen gedreht habe, versuche ich mit den Worten „Unglaublich. Was machen die denn?“ eine blonde junge Frau ins Gespräch zu verwickeln. Sofort steigt sie ein, und es stellt sich heraus, dass auch sie sich bloß pro forma arbeitslos melden will. Wir jaulen gemeinsam den Abgesang auf das Drei-Kammer-System, mit dem der arbeitslose Bodensatz geklärt werden soll. Bis sie aufgerufen wird. Kurz nach ihr geht der Dicke mit der schlauen Brille. Das Ganze scheint noch einmal Tempo zu gewinnen. Dann aber, ich bin der letzte Wartende: ewige Stille. Ich trete vor, in den Flur der Berater. Eine Tür steht offen, die Dame sitzt am Computer. „Könnten Sie mich vielleicht kurz beraten?“, frage ich. „Nein. Jetzt sind die Männer dran. Zimmer 503 und 507.“ Auch die Tür zur 503 steht offen. Ich wiederhole die Frage. „Wie ist Ihr Name?“, schallt es zurück. Ich sage meinen Namen. „Nein, Sie müssen zur 507. Herr Kolschick ist Ihr persönlicher Berater.“

Bei mir geht es zügig. Immerhin ist der Berater, der keinen Rat für mich hat, der Erste, der sich für die Wartezeit entschuldigt. Das macht mich wütend: dieses amtliche Fehlen jeglichen Schuldbewusstseins! Das muss man doch merken, wenn man sich mit fiktiver Arbeit beschäftigt, um die man nicht gebeten wurde und die ganz und gar überhaupt nicht existiert!

Sei’s drum, ich bin endlich arbeitslos und versuche nur, so schnell wie möglich diesen Ort wieder zu verlassen, an dem man sich meine Wartestunden zu Arbeitsstunden vergolden lässt, Solidarität hin oder her. Der Ausgang ist bereits geschlossen, ich muss die Hintertreppe benutzen. Nach über vier Stunden verlasse ich das Amt, das sich die Arbeit selber schafft, und überlege, ob sie bei Vollbesetzung wohl eine vierte Schikane in den Vermittlungsparcours einbauen würden. FELIX BRANDHORST