piwik no script img

Die schnellste Stadt der Welt

aus Schanghai GEORG BLUME

Von den alten Kolonialvillen des Xingguo-Hotels im Zentrum Schanghais, in denen selbst Dienstbotenstuben zu Luxuszimmern umgerüstet sind, geht man etwa eine Stunde zur Changle-Straße. Hier wohnt Martin Bao mit seiner Frau Shirley Cui in einer neuen Apartmentwohnung im 21. Stock. Den Weg säumen französische Platanen, die auch im Dezember noch nicht ihre Blätter verloren haben. Dem Fußgänger scheint es, als habe sich die ob ihres weltweit beispiellosen Baubooms ebenso bewunderte wie gescholtene Stadt gar nicht verändert. Denn unter den Alleebäumen pulsiert Schanghai wie eh und je: Ein unüberschaubares Gewimmel von Menschen, von denen scheinbar jeder etwas zu verkaufen hat, eingepfercht von Fahrzeugen, von denen Fahrräder aller Art – vom Mountainbike bis zum Mülldreiradlaster – den Autos zahlenmäßig immer noch weit überlegen sind. Das ist das Schanghai der Straße: lebendig, dynamisch und mitleidlos kapitalistisch.

„Oben wohne ich“

Doch wie anders blicken Martin Bao und Shirley Cui – die westlichen Vornamen wählten sie während des gemeinsamen Studiums in Australien – auf ihre Heimatstadt. Wenn der 31-jährige Martin, Gründer einer Firma für angewandte Informationstechnologie, nach getaner Arbeit im 30. Stock des Golden Financial Center abends aus seinem Wohnzimmerfenster im 21. Stock schaut, liegt vor ihm ein Hochhausmeer, so groß wie sonst nirgends auf der Welt: hier der alte Turm des Hilton Hotels, dort die Baustelle eines Hongkonger Immobilientycoons und in der Ferne die Skyline des neuen Finanzviertels Pudong.

Ist Schanghai also wirklich jene Metropole der Zukunft, für die sie wegen ihres Ruhms als schönste und größte Stadt Chinas und ihres seit 20 Jahren zweistelligen Wirtschaftswachstums gehalten wird? Bao, in Cordhose und Filzjacke, beugt sich weit nach vorn und zeigt zur Erde: „Dort unten ist noch ein altes Gebäude stehengeblieben, in das nach dem Einmarsch der Roten Armee 1949 ein berühmter General einzog. Heute wohnen seine Kinder in dem Haus“, erzählt der Jungkapitalist. Er hätte auch sagen können: „Dort unten wohnen die Kommunisten und hier oben wohne ich.“

Denn Bao lebt, hoch über der Straße, im Schanghai der Himmelstürme, in dem Betonwände das Menschengewirr entflechten und das Internet die Fahrräder ersetzt. In seinem Apartment mit offener Wohnküche gießt er für sich und seinen Vater Tee auf, während Shirley es sich auf dem gelb bezogenen Sofa bequem macht. Baos Welt wirkt seltsam austauschbar – als sei man in Tokio oder New York.

Baos Vater, ein hochrangiges Mitglied der Kommunistischen Partei, hält diesen Eindruck für fatal. „Es wäre gut, wenn sich Schanghai etwas weniger mit Tokio oder New York vergleichen würde und, statt auf eine blinde Aufholjagd zu setzen, sein eigenes Tempo finden würde“, mahnt der 60-Jährige.

Vater und Sohn, die getrennt leben, aber ein enges Verhältnis pflegen, finden an diesem Abend schnell ins Gespräch. Es sind nur noch wenige Tage, bis der chinesische Premierminister Zhu Rongji und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder in Schanghai die erste, mit deutscher Technik hergestellte Magnetbahnstrecke der Welt einweihen wollen. Längst ist der Name des Zuges, Transrapid, hier in aller Munde. Den einflussreichen Vater aber beglückt das wenig: „Möglich ist der Transrapid in Schanghai nur, weil es hier immer noch eine Kommandostruktur gibt, wo einer oben etwas befiehlt und alle anderen ihm folgen“, schimpft der Kader im Trainingsanzug. Er zürnt damit in erster Linie Premierminister Zhu, der früher Oberbürgermeister von Schanghai war und das Transrapid-Projekt in den letzten Jahren ohne langes Zögern und mit Pekinger Regierungsgewalt durchgesetzt hat.

Nur 22 Monate benötigte man für den Bau der neuen Strecke. Die deutschen Transrapid-Manager sind begeistert von dem Tempo, nachdem sie in Deutschland 23 Jahre vergeblich auf die Anwendung ihrer Technologie gewartet hatten. Doch Vater Bao bleibt unbeeindruckt: „Wenn China zu viel Geld an einem Ort wie Schanghai investiert, wird der Zusammenhalt des Landes gefährdet. Denn wir sind immer noch ein armes Land“, warnt der alte Kommunist vor den Kosten des Projekts und dem Auseinanderfallen Chinas in eine erste und eine dritte Welt.

Sein Sohn aber widerspricht. Die beste Technologie sei für Schanghai heute gerade gut genug, wenn es sich dem weltweiten Wettbewerb stellen wolle. Außerdem verleihe der Transrapid Schanghai das Image, die schnellste Stadt der Welt zu sein. Dafür seien keine Kosten zu hoch. Zumal das Geld anderswo in China noch schlechter angelegt wäre: „Investitionen in unsere armen Provinzen sind wie Entwicklungshilfe für Afrika: Die Milliarden versickern im Nichts. In Schanghai kann dagegen jeder sehen, wo das Geld hinfließt“, kritisiert der junge Bao die Sichtweise seines Vaters.

Schanghai zuerst!

Ihre Diskussion ist beispielhaft für China: Im mächtigsten Entscheidungsgremium des Landes, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros, vertreten die Mitglieder der so genannten Schanghai-Fraktion die Position Martin Baos: Schanghai zuerst! Ihnen gehört die Mehrheit im Aussschuss. Die Fraktion um den neuen Parteichef Hu Jintao neigt hingegen eher zu mehr Ausgleich auch für die armen Regionen des Landes. So haben Thyssen-Krupp und Siemens mit ihrem Superzug bereits eines erreicht: Der Transrapid ist zum Symbol für eine der wichtigsten politischen Debatten des Landes geworden.

Wobei die Debatte aus Schanghaier Sicht längst entschieden ist: „Wir sind bereits in die Liga der bekanntesten Städte der Welt aufgestiegen“, frohlockt Yu Zhifei, Chefmanager der zukünftigen Formel-1-Rennstrecke in Schanghai. „Vielleicht werden wir das New York des 21. Jahrhunderts sein.“

Der bullige Yu in Pullover und Daunenjacke, der als Begründer des jungen Schanghaier Profifußballs längst zu lokalem Ruhm aufgestiegen ist, empfängt im Vorzeigeneubau der Stadt, dem vom britischen Stararchitekten Sir Norman Foster konzipierten Juishi-Tower. Außen komplett mit Glas verkleidet, soll der Foster-Turm das Gegenteil von Betondenken versinnbildlichen. Denn hier wird die Stadt der Zukunft geplant: Die Schanghai Juishi Corporation, nach der das Gebäude benannt ist, gebietet über die neue Formel-1-Rennstrecke, den Transrapid, die Schanghaier U-Bahn, eine neue Hochbrücke und die Weltausstellung 2010. Kein Megaprojekt darf Schanghai heute fehlen. Schließlich will man im Jahr 2050 70 Millionen Einwohner zählen.

Ist die Stadt größenwahnsinnig? „Schanghai muss heute in allem für China Vorbild sein, nicht nur im Fußball und der Formel 1“, rechtfertigt Manager Yu die großen Pläne. Neben ihm sekundiert ein Mitarbeiter der deutschen Unternehmensberatung Roland Berger: „Alles, was Yu bislang angefasst hat, ist ihm gelungen.“

Erstaunlich, dass die Macher des Schanghai-Booms, zumeist hemdsärmelig-burschikose Typen wie Yu, bei den Nadelstreifenvertretern des globalen Kapitals plötzlich so an Ansehen gewonnen haben. Doch nach dem Zusammenbruch der New Economy im Westen gibt es derzeit auf der ganzen Welt nur Schanghai, um ersatzweise eine neue Wirtschaft zu verkörpern: Wo sonst herrscht noch zweistelliges Wachstum? Wo sonst winkt ein neuer Markt mit einer Milliarde Konsumenten? Also haben sich über 6.000 ausländische Firmen hier niedergelassen, haben 300.000 taiwanische Geschäftsleute ihren Sitz von der Insel nach Schanghai verlegt. Jeder Firmenboss, der einmal das größte Hochhausmeer der Welt gesehen hat, scheint zu glauben, dass auch seine Firma darin baden muss. So ziehen all die neuen Firmenvertreter in Hochhäuser ein. Doch das Schanghai der Straße bleibt ihnen fern.

Kenny, ganz unten

Dort unten, in den Niederungen der Metropole, haust Kenny, der Wirt des Ying-Yang-Clubs. Er kam vor zehn Jahren aus Hongkong an den Huangpu-Fluss, investierte sein Geld in ein Kellerlokal und besaß irgendwann Ende der Neunziger den heißesten Schuppen der Stadt. Damals boomten die inzwischen ein wenig außer Mode geratenen Schanghaier Rave-Partys. Im Ecstasyfieber fand die Stadt Anschluss ans Weltgeschehen, und Kenny knüpfte die Verbindungen: DJs aus der ganzen Welt gingen bei ihm ein und aus.

Das ist gar nicht so lange her. Doch jetzt sitzt Kenny im schwarzen Anzug einsam vor den dunklen Fenstern seiner Bar und will ein Buch über die großen Zeiten des Ying-Yang-Clubs schreiben. Dabei geht es ihm noch am besten in seiner Straße. Kenny kann unendliche Geschichten über die Geschäfte und Lokale erzählen, die in den letzten Jahren in seiner Nachbarschaft eröffnet – und wieder geschlossen wurden. „Nichts hält länger als drei Monate, kein Stein dieser Straße ist während meiner Zeit hier auf dem anderen geblieben“, stöhnt der Clubbesitzer. Es klingt wie eine Grabrede.

Kenny erlebt die Kehrseite des Schanghai-Booms. Selbst in der schönsten und größten Stadt Chinas herrscht vor allem der schöne Schein. 40 Prozent der Hochhäuser besserer Bauqualität stehen leer, ein großer Teil des städtischen Wachstums beruht auf staatlichen Investitionen und Subventionen.

Viele Jungunternehmer scheitern an ihren eigenen, von der Wachstumseuphorie fehlgeleiteten Prognosen. Ihnen fehlt die Einsicht der Straße: Wer hier lebt, sieht, dass trotz zunehmender Automassen immer noch 80 Prozent der Schanghaier mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Nur wenige von ihnen werden sich in den nächsten Jahren eine Transrapidfahrt leisten können.

Das sind die wahren Lebensverhältnisse in Schanghai: Sie entwickeln sich erst. Was nicht bedeutet, dass sie nicht die Basis für die Stadt der Zukunft sein könnten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen