Architektur-Ausstellung: Ungeliebte Bauten

Vielerorts steht sie nicht mehr hoch im Kurs: Der Architektur der 1960er bis 80er Jahre widmet sich die Ausstellung "Wiedersehen. Architektur in Niedersachsen zwischen Nierentisch und Postmoderne".

Die öffentliche Hand als Bauherr: Die Kunsthalle Wilhelmshaven, fertig gestellt 1968, entworfen von Frank Sommerfeld und Hans Günter Harms. Bild: Olaf Mahlstedt

BRAUNSCHWEIG taz | Wären Architektur und Städtebau eine Sprache, in der sich eine bestimmte Zeitspanne artikuliert - die Jahre von 1960 bis 1980 hätten wohl das Pech, nicht verstanden zu werden (oder verstanden werden zu wollen). So fasst der Braunschweiger Architekturhistoriker Holger Pump-Uhlmann das Dilemma der baulichen Hinterlassenschaften aus jener Zeit zusammen, die allerorten lieber abgerissen werden, als sie genauer zu ergründen und zu sanieren.

Anlass bot Pump-Uhlmann die Eröffnung einer informativen kleinen Wanderausstellung zu unbekannten Bauten dieser Jahre in Niedersachsen, die von der niedersächsischen Architektenkammer zusammengestellt wurde und derzeit in der Bürgerhalle des Wolfsburger Rathauses zu sehen ist.

Die Kammer hatte Städte und Kommunen aufgefordert, für diese namenlose Ära "zwischen Nierentisch und Postmoderne" - so auch der Titel der Ausstellung - typische Bauwerke oder auch städtebauliche Ensembles zu benennen, die zwar bemerkenswert und qualitätsvoll sind, aber nicht denkmalgeschützt - und das wohl auch nur mit wenigen Ausnahmen jemals werden.

Bezeichnend sei gewesen, erklären die Organisatoren, dass sich sowohl die Landeshauptstadt Hannover als auch das benachbarte Braunschweig eher verhalten beteiligten: In Hannover schwelt bekanntlich der Konflikt um den Abriss des 1962 fertiggestellten, sehr wohl denkmalgeschützten Plenarsaals des Landtags. In Braunschweig werden gerade die luftigen Pavillons der öffentlichen Bücherei nach dem Verkauf des städtischen Areals zerstört. Auch die programmatische Wilhelm-Bracke-Gesamtschule in der dortigen Weststadt steht nach nur 35 Jahren Betrieb auf der unmittelbaren Abrissliste. Und bereits 2009 wurde das kommunale "Freizeit- und Bildungszentrum" geschleift in der Hoffnung auf einen potenten Investor für ein Mehr-Sterne-Hotel - eine Hoffnung, die bislang allerdings unerfüllt blieb.

Solch zerstörerischem Treiben zum Trotz konnte die Architektenkammer eine Liste von landesweit rund 700 Bauten zusammentragen und an das Landesamt für Denkmalpflege weitergeben, 35 von ihnen sind nun in aktuellen und teils bauzeitlichen Fotografien, Plänen und Kurztexten präsentiert.

Knapp 20 der Objekte sind kommunale oder Landesbauten, fünf wurden von kirchlichen Trägern gebaut. Dies zeigt die ehemals starke Kraft der öffentlichen Hand als Bauherr, mithin die bauliche Manifestation eines gesellschaftlichen Verantwortungsgefühls - aus Zeiten, lang bevor sich primär wirtschaftliches Denken in der öffentlichen Daseinsvorsorge durchsetzte und dubiose Praktiken des Public-Private-Partnership die Baukultur vollends unterminierten.

Damit ist aber auch schon der ideologische Generalverdacht ausgesprochen, unter dem diese Gebäude und ihre Entstehungszeit ab 1960 stehen: Die Stein gewordene soziale Utopie mit ihren klaren, großzügigen und - zumindest in der westlichen Welt - mitunter räumlich luxuriösen Bauten aus der Zeit nach der unmittelbaren Nachkriegs-Bedarfsdeckung wird heute weltweit und geradezu vehement von politisch und gesellschaftlich anders orientierten Kräften abgelehnt. Vielleicht ja auch wegen seines unterschwellig immer noch zu spürenden Potenzials wird da ein fragiler sozialdemokratischer Konsens abgeräumt zugunsten von Marktradikalismus.

Und so sind die ach so teuren Sanierungen, die angebliche Anfälligkeit mitunter experimenteller Konstruktionen oder die nicht kompensierbaren Defizite in energetischen und brandschutztechnischen Belangen die vermeintlich rationalen Argumente, um sich mit der ungeliebten Immobilie - einer ideologischen Altlast gleich - auch sozialer Forderungen zu entledigen.

Der niederländische Architekt Rem Koolhaas, nicht immer politisch sensibel in der eigenen weltweiten Bauproduktion, hatte mit seinem Beitrag auf der letztjährigen Architekturbiennale in Venedig dieses Thema in seiner politischen Dimension pointiert: Er sieht eine Diskrepanz zwischen einer globalen, häufig touristisch motivierten Denkmalschwemme der "besonderen" Bauten - von denen die Besitzer oft nicht recht wissen, wie sie überhaupt sinnvoll zu nutzen sind - und dem ungemein leistungsfähigen "normalen", häufig nur mittelmäßigen Bestand unserer modernen Städte, den er "ästhetisches und ideologisches Debakel" nennt.

Koolhaas fordert in einem Abrissmanifest dazu auf, Kriterien zu entwickeln, die analog den Statuten des "World Heritage Centre" Entscheidungshilfen geben könnten, wann ein Gebäude abgerissen werden darf. Räumliche und soziale Parameter sollen den erhaltenswerten Fundus vom Ausschuss abgrenzen.

Für den modernisierenden Umgang mit dem zu bewahrenden Bestand hat Koolhaas Modelle parat: Fehler etwa könnten korrigiert, autonome Teile ganz andersartig aktiviert oder das konstruktive Skelett und das ästhetische Repertoire eines Bauwerks herausgeschält werden.

Von derartiger Professionalität ist man in Niedersachsen weit entfernt: Wenn hier Bauten der Jahre nach 1960 erhalten und saniert werden, dann, so könnte man vereinfacht sagen, geht es häufig daneben. Das zeigt sich etwa am kaputtsanierten Oker-Hochhaus von Dieter Oesterlen der TU Braunschweig, das zeigen verschandelte Geschäftskomplexe von Friedrich Wilhelm Krämer, ebenfalls in Braunschweig. Und so ist das löbliche Verdienst der Ausstellung der Architektenkammer: zu sensibilisieren für häufig übersehene Kleinode der Alltagsarchitektur. Zu entdecken gibt es vom Sprungturm im Bückeburger Stadtbad über die U-Bahn-Station Markthalle und die Musikhochschule in Hannover bis zur Kunsthalle Wilhelmshaven vieles.

Nur eben kein "Crescendo des Schreckens" - dieses Urteil hatte der Literat Martin Mosebach im vergangenen Jahr auf einem Symposion an der Kunsthochschule Braunschweig gefällt. Soweit zur Sprache Architektur.

"Wiedersehen. Architektur in Niedersachsen zwischen Nierentisch und Postmoderne": bis 10. 2., Wolfsburg, Rathaus; 9. 3. bis voraussichtlich 15. 4., Göttingen; 5. bis 29. 5., Hildesheim; 8. 6. bis 3. 7., Osnabrück

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.