Arbeitsmediziner über niedrigen Krankenstand: "Viele halten sich mit Pillen fit"
Viele Arbeitnehmer meinen, sie müssten immer funktionieren, sagt Arbeitsmediziner Andreas Weber. Er warnt: Lediglich physische Anwesenheit von Kranken schade Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
taz: Herr Weber, schleppen sich Millionen Arbeitnehmer aus Angst vor Jobverlust krank zur Arbeit?
Andreas Weber: Schon seit fast zehn Jahren ist der gemessene Krankenstand ja sehr niedrig. Das hat viele Gründe. Das hat auch mit der Furcht zu tun, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Aber allein hierdurch lässt sich dies nicht erklären.
Was haben Sie noch für Erklärungen?
Viele Arbeitnehmer haben das Gefühl, sie müssten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche erreichbar sein. Sie meinen, immer funktionieren zu müssen. Und irgendeine Börse auf der Welt hat immer geöffnet. Wissenschaftlich redlich wäre es allerdings, wenn man jede Branche für sich bewerten würde. Dann sieht man nämlich, dass die Krankenstände durchaus unterschiedlich sind.
Können Statistiken heute noch verlässlich festhalten, warum sich jemand krankmeldet - oder eben nicht?
Schwierig. Die Forschung erkennt mehr und mehr, wie wichtig der subjektive Faktor beim Krankenstand ist: Wenn ein Arbeitnehmer subjektiv davon überzeugt ist, er könne nicht zur Arbeit kommen, dann bleibt er auch zu Hause. Gleichzeitig gibt es den Fall: Eine Sekretärin ist wegen Migräne krankgeschrieben. Sie mag aber ihre Kollegen und ihre Arbeit sehr, will sie nicht im Stich lassen und nichts hält sie zu Hause. Dann wird sie im Büro erscheinen.
Wie wichtig sind psychische Erkrankungen?
Sie spielen für das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen eine große Rolle. Das hat unter anderem auch mit der Arbeitsverdichtung zu tun. Aber auch da ist die ganze Antwort nicht so einfach. Unter anderem gibt es heute mehr Psychologen und Psychotherapeuten als zu Beginn der Statistik 1970. Flapsig gesagt: Je größer das Angebot, desto größer die Nachfrage. Hinzu kommt: Mancher Arbeitnehmer wird seinen Arzt bitten, ihn für eine Woche krankzuschreiben, weil er einfach fix und fertig ist. Der andere aber wird sich mit Pillen fit zu machen versuchen - und am Arbeitsplatz lediglich physisch anwesend sein. In Fachkreisen spricht man da von "Präsentismus". Das schadet dann Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
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