Arbeitsmarktexperte zu Fachkräftemangel: „Die wollen sinnhafter arbeiten“

Die Wirtschaft kriselt, die Lage für Jobsuchende ist ideal. Dennoch gibt es keine Kündigungswellen wie in den USA. Wieso, erklärt Experte Enzo Weber.

Eine Person hinter einem Fenster

In manchen Branchen ist Homeoffice inzwischen normal Foto: William Perugini/imago

taz: Herr Weber, Ihr Institut zählte im zweiten Quartal 2022 mehr als 1,9 Millionen offene Stellen. Ein Allzeithoch. Welche Branchen betrifft das?

Enzo Weber: Fast alle. Bei einigen Branchen war es ja schon vor der Coronakrise eng: im Handwerk, im Erziehungswesen, in der Pflege, in der IT. In der Krise sind dann weitere Berufsfelder dazugekommen, vor allem die Gastronomie, die Flug- und Veranstaltungsbranche. All die Branchen, die jetzt wieder aufmachen und ihre Personallücken füllen wollen.

Wird das so bleiben? Derzeit steuert die Wirtschaft in Deutschland ja in eine Krise. Es droht eine Rezession.

leitet den Bereich „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am In­sti­tut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und lehrt empirische Wirtschaftsforschung an der Uni Regensburg.

Die derzeitige wirtschaftliche Lage ist natürlich heikel. Die Arbeitsmarktlage aber ist es nicht. Die Knappheit von Arbeitskräften führt einfach dazu, dass Betriebe versuchen, ihre Leute so lange wie möglich zu halten. Weil jeder weiß, wie schwer es ist, neue Mitarbeiter zu finden. Für Arbeitnehmer heißt das: Selbst wenn Jobs gestrichen werden, gibt es gute Aussichten, schnell wieder etwas zu finden. Der derzeitige Arbeitsmarkt ist also ziemlich robust.

In den USA kündigten vergangenes Jahr 47 Millionen Menschen ihre Jobs, mehr als je zuvor. Die Rede war von der „Great Resignation“. In diesem Frühjahr wurden Befürchtungen laut, Deutschland könne eine ähnliche Kündigungswelle treffen. Haben sich die Sorgen bewahrheitet?

Nein, haben sie nicht. In der Coronakrise gab es in Deutschland sogar deutlich weniger beendete Jobs als vorher. Es ist also genau das Gegenteil eingetreten.

Warum?

Das hat mehrere Gründe: Wer in Deutschland eine neue Stelle anfängt, hat in den ersten sechs Monaten keinen Kündigungsschutz. Da überlegt man in einer Krise schon zweimal, ob man seinen sicheren Job dafür aufgibt. Ähnliches bei der Sperrfrist in der Arbeitslosenversicherung: Wer selbst kündigt, bekommt drei Monate kein Geld, wenn er arbeitslos ist. Das sind alles Hürden. Man muss aber auch grundsätzlich sagen: Wir haben in Deutschland ein viel spezifischeres berufliches System als in den USA.

Inwiefern?

Dort ist es üblicher, zwischen ganz verschiedenen Jobs zu wechseln. In Deutschland bleibt man eher in einem Berufsfeld, das hat viel mit formellen Qualifikationsanforderungen zu tun.

Der „Engagement Index“ des Beratungsunternehmens Gallup attestiert den Deutschen derzeit eine besonders hohe Wechselbereitschaft. Demnach will jeder vierte Befragte innerhalb eines Jahres den Job wechseln, 14 Prozent seien sogar aktiv auf Jobsuche, mehr als in den USA. Woher kommt diese Unzufriedenheit?

Derartige Absichtsfragen sind grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen. Man weiß, dass dabei Prozentsätze herauskommen, die oft nicht realisiert werden. Nur weil jemand angibt, den Job kündigen zu wollen, heißt das nicht, dass er es auch macht. Zudem ist immer der zeitliche Vergleich wichtig. Auch früher hat es Unzufriedenheit gegeben, aber da wurde sie halt nicht mit einem plakativen Trend aus den USA in Verbindung gebracht.

In den USA wird derzeit ein neues Phänomen diskutiert, das „quiet quitting“. Die Idee: Menschen machen nur noch so viel wie nötig, um nicht gefeuert zu werden. Keine Überstunden, keine Mails nach Feierabend. Dienst nach Vorschrift sozusagen. Die Bewegung versteht sich als Protest gegen die stetig steigenden Anforderungen der Arbeitswelt. Glauben Sie, dieses Phänomen wird es auch in Deutschland geben?

Nein, glaube ich nicht. Die Arbeitszeitwünsche, also die Frage, wie lange jemand arbeiten möchte, sind in Deutschland beispielsweise ziemlich konstant. Die häufig geäußerte Behauptung, die junge Generation wolle weniger arbeiten, stimmt einfach nicht. Die wollen flexibler arbeiten, selbstbestimmter, sinnhafter. Aber nicht weniger. Was sich tatsächlich geändert hat, sind die Ansprüche an die Arbeitsbedingungen. Die Menschen möchten die Arbeitszeiten dem Leben anpassen, nicht das Leben den Arbeitszeiten.

Haben die Arbeitgeber hierzulande auf diese neuen Ansprüche bereits reagiert?

Es gibt immer solche und solche, aber insgesamt hat sich definitiv etwas getan. Die Coronapandemie hat ein kollektives Erlebnis gebracht, besonders bei den Themen Flexibilität und Homeoffice. Da wurden Dinge eingeübt, die nachgewiesenermaßen funktionieren. Das war für alle sichtbar. Und wird jetzt natürlich auch verlangt.

Ist das in allen Branchen möglich?

Es gibt Branchen, da kommen die Arbeitgeber an Homeoffice gar nicht mehr vorbei, in der IT zum Beispiel. Für andere Branchen, etwa das Handwerk, gilt das natürlich weniger. Aber auch da kann man selbstbestimmte Arbeitsweisen und weniger starre Organisationen umsetzen, wenn man will. Die Knappheit der Arbeitskräfte hat einfach dazu geführt, dass man höhere Ansprüche an eine Arbeitsstelle stellt – und diese auch häufiger durchsetzen kann.

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