Arbeitskampf bei Lieferando: Verkauft und ausgeliefert
Der Essenlieferdienst Lieferando will immer mehr seiner fest angestellten Kuriere in Subunternehmen auslagern. Dort droht systematische Ausbeutung.

Zusammen mit rund 150 Kolleg:innen und Unterstützer:innen protestiert S. gegen die Pläne Lieferandos, immer mehr bislang fest angestellte Lieferkuriere in Subunternehmen, sogenannte „Flottenpartner“, auszulagern. Dort werde systematisch gegen das Arbeitsrecht verstoßen: Keine Verträge, kein Mindestlohn, keine Sozialleistungen, kritisiert das selbstorganisierte Arbeiter:innenkollektiv Lieferando Workers Collective, das zu dem Protest aufgerufen hat.
In der Branche galt Lieferando bislang als das Unternehmen mit den am wenigsten miserablen Arbeitsbedingungen. Ein wesentlicher Grund dafür ist das Direktanstellungsmodell Lieferandos. So werden Mitarbeiter:innen nicht pro Lieferungen bezahlt, sie bekommen stattdessen eine feste Stundenanzahl zugesichert. Darüber hinaus sind unbefristete Arbeitsverträge die Regel.
Der Stundenlohn entspricht dabei dem gesetzlichen Minimum von 12,82 Euro. Auch Betriebsräte konnte die Beschäftigten in vielen Städten erstreiten – eigentlich gesetzliche Mindeststandards in Deutschland, die aber in der Branche nicht überall üblich sind.
2.000 Entlassungen drohen
Umso erschreckender war die Ankündigung Lieferandos Mitte Juli, rund 2.000 der insgesamt 9.000 direkt beschäftigten Kuriere an Subunternehmen auslagern zu wollen. „Lieferando erweitert sein Logistiknetzwerk mancherorts um zusätzliche Lieferunternehmen“, teilt ein Sprecher auf Anfrage mit, „Das gegebene Markt- und Wettbewerbsumfeld erfordert dies.“
Während in Städten wie Hamburg oder Potsdam die gesamte Belegschaft entlassen wird, verläuft der Prozess in Berlin eher schleichend, berichtet Moritz W. vom Lieferando Worker Collectiv. „Seit Beginn des Jahres haben wir 500 Kolleg:innen verloren“, berichtet er. Noch zu Beginn des Jahres seien 2.000 Beschäftigte beim Unternehmens gewesen.
Als „psychologische Kriegsführung“ bezeichnet Moritz W. dabei das Verhalten seines Arbeitgebers. Ständig würden Schichten kurz vor Antritt annulliert, fehlerhafte Gehaltsabrechnungen seien die Regel. Urlaube würden nicht genehmigt, wichtige Dokumente, etwa für Visa, würde das Unternehmen gar nicht oder nur nach ewiger Verzögerung herausgegeben. „Lieferando will seine Kuriere in Berlin loswerden“, sagt W.
Auf taz-Anfrage bestreitet Lieferando, dass in Berlin Auslagerungen an Subunternehmen geplant seien. „In Berlin ist vorerst kein nennenswerter Fahrer:innen-Abbau geplant und wird weiter eingestellt“, teilt ein Sprecher des Unternehmens mit.
Arbeitsrecht systematisch ignoriert
Auf dem Papier bieten zwar auch die Subunternehmen Festanstellungen, Mindestlohn und Sozialversicherungen. Doch in der Praxis kommt es bei den Partnerunternehmen zu massiven Arbeitsrechtsverletzungen, berichten Beschäftigte.
Anand S. berichtet, Kuriere müssten in vielen Fällen Vermittlungsgebühren von bis zu 500 Euro bezahlen, um überhaupt für den Subunternehmer arbeiten zu dürfen. Es gäbe in vielen Fällen keine Arbeitsverträge, bezahlt werde pro Lieferung und nicht pro Stunde.
Manchmal würden die Whatsapp-Gruppen aufgelöst, die „Flottenmanager“, die sonst das Geld bar in Umschlägen verteilen, seien irgendwann überhaupt nicht mehr auffindbar. Gleich drei Freunde von ihm seien so um rund 1.500 Euro Lohn betrogen worden. „Bei tausend Kurieren in einer Gruppe kommt da schon eine Million zusammen“, erklärt Anand S.
Viele der Beschäftigten kommen aus südasiatischen Ländern, wie etwa aus Indien, Pakistan oder Bangladesch, und seien auf das Geld angewiesen. Oft kennen sie ihre Rechte nicht, haben Angst, ihren Aufenthaltsstatus zu gefährden und scheuten deshalb davor zurück, vors Arbeitsgericht zu ziehen. Auch kommen die Subunternehmer damit durch, weil sie Scheinunternehmen mit Strohleuten als Geschäftsführer gründen, die kurz nach ihrer Gründung dann pleitegehen. Die Hinterleute allerdings sind von den Behörden nur schwer zu finden und zu fassen.
Alte Masche Subunternehmer
Die Masche ist nicht neu, Plattformunternehmen wie Uber und Wolt setzten schon seit Längerem auf Subunternehmen mit ähnlichen Folgen. So versuchen Wolt-Kuriere regelmäßig vor dem Arbeitsgericht ihren von dubiosen Subunternehmen vorenthalten Lohn einzuklagen, bislang erfolglos.
Das Investigativmagazin Kontraste berichtete bereits Ende August über die illegalen Praktiken von Lieferandos Subunternehmern. Demnach würden die mutmaßlich kriminellen Subunternehmen nicht direkt für Lieferando arbeiten, sondern für Fleetlery, ein Start-up aus Hamburg, das sich als eine Art Business-to-Business-Plattform für Lieferdienste versteht. Lieferando lagert Aufträge an Fleetlery aus, die dort wiederum von mehr oder weniger seriösen Subunternehmen übernommen werden.
Auf taz-Anfrage streitet Lieferando ab, illegale Geschäftspraktiken zu tolerieren. „Alle Flottenpartner unseres Marktplatzes sind angewiesen, für Lieferando-Bestellungen ausschließlich angestellte Fahrer:innen einzusetzen“, sagt ein Unternehmenssprecher. Die Subunternehmen würden verpflichtet, geltende Regelungen einzuhalten. Außerdem gäbe es regelmäßige stichprobenartige Kontrollen. Falls Verstöße bekannt würden, werde die Zusammenarbeit mit dem Unternehmen beendet, so der Sprecher.
Angesichts der Zustände in der Lieferbranche werden die Rufe nach wirksamer Regulierung allerdings lauter. Eine Möglichkeit wäre, Auslagerungen in Subunternehmen grundsätzlich zu verbieten. Ein ähnliches Modell führte die Bundesregierung 2021 nach vielen Skandalen in der Fleischbranche ein.
Kontrollen und Direktanstellungsgebote
Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) verspricht deshalb, Druck auf Bundesebene zu machen: „Auf der Arbeits- und Sozialministerkonferenz in diesem Jahr wollen wir einen Antrag für ein Direktanstellungsgebot bei den Lieferdiensten stellen“, teilt Kiziltepe auf taz Anfrage mit. Doch die Aussichten auf Erfolg für die Bundesratsinitiative sind eher gering.
Verantwortlich für die Kontrollen ist der Zoll, eine Behörde unter Bundeshoheit. Eine Möglichkeit für das Land hingegen wäre, das Nachweisgesetz durchzusetzen, sagt Damiano Valgolio, arbeitspolitischer Sprecher der Linken. Demnach haben Arbeitnehmer das Recht auf einen schriftlichen Arbeitsvertrag. Das Land wäre befugt, die Durchsetzung auch durch Kontrollen durchzusetzen.
Doch seit 2022 verhängte Berlin kein einziges Bußgeld. „Da hätte man ein richtiges Instrument in der Hand, aber es passiert überhaupt nichts“, kritisiert Valgolio.
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