Arbeitskämpfe im Einzelhandel: Vom Recht, die Kasse zu schließen
Als die Metro-Gruppe ihre türkischen Real-Märkte verkaufte, zog sie sich aus der Verantwortung für die 1.700 Angestellten. Viele warten seit drei Jahren auf ihre Abfindung. Manche kämpfen – selbst in Corona-Zeiten.
Seit 33 Monaten kämpft Kader İpek Altınbulak um ihre Rechte. Bis vor Kurzem verbrachte sie vier Tage pro Woche auf Protestaktionen. An jedem Fleckchen Istanbuls hat sie bereits gestanden, außerdem in Ankara, Adana und Kayseri. Der Kampf war ihr Lebensmittelpunkt. Dutzende von Ermittlungsverfahren laufen gegen sie, Wachmänner haben sie vor Supermärkten verprügelt, wenn sie dort Position bezog. Zweieinhalb Jahre lang war Altınbulak arbeitslos, nachdem die Supermarktkette Real in der Türkei Konkurs anmeldete. 17 Jahre lang hatte sie dort gearbeitet und immer noch kämpft sie darum, ihre Abfindung ausgezahlt zu bekommen.
Auch dieses Jahr will sie am 1. Mai auf die Straße gehen, und zwar in der alten Real-Arbeitskleidung. “Mittlerweile hab ich vor nichts mehr Angst“, sagt die 41-Jährige. “Ich mache weiter, bis ich zu meinem Recht komme.“ Denn nicht nur die Feiern und Proteste zum 1. Mai nehmen aufgrund der Pandemie völlig neue Formen an, sondern auch die Rechtsverletzungen, denen die noch arbeitenden Menschen ausgesetzt sind. Auch am 1. Mai müssen viele Menschen trotz Ausganssperre bei ihrer Arbeit antreten.
Der Diyarbakırer HDP-Abgeordnete Garo Paylan ist wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Partei. Nie sei die Arbeiterklasse so drastisch ihrer Grundrechte beraubt worden wie im Frühjahr 2020, sagt er. “Wer nicht zur Arbeit gehen kann, muss hungern, und wer zur Arbeit gezwungen wird, geht für oftmals einen Hungerlohn das Risiko ein, sich Corona zu holen.“
Gewerkschaften waren in der Türkei traditionell stark und kämpferisch. Doch in den letzten Jahren sind sie stark geschrumpft. Anfang der 90er Jahre war rund ein Viertel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, heute sind es nur noch halb so viele. Der Gewerkschaftsdachverband DİSK hat im April einen Bericht veröffentlicht, demzufolge 88 Prozent der derzeit 15,8 Millionen Arbeiter*innen und Angestellten in der Türkei keiner Interessenvertretung angehören. Dabei gibt es genug Möglichkeiten: Es gibt einerseits in fast jedem Bereich staatstreue Gewerkschaften, die sich an der Regierungspolitik orientieren, und andererseits die traditionellen Gewerkschaften mit ihren langjährigen Kampferfahrungen und oft ebenso langwierigen Spaltungen und Auseinandersetzungen untereinander.
Arbeitskämpfe gegen deutsches Management
Altınbulak muss in ihrem neuen Job täglich zehn Stunden arbeiten. Sie verlässt das Haus früh morgens und kehrt abends spät zu ihrer Tochter zurück. Die beiden leben in Kartal, einem östlichen Vorort auf der asiatischen Seite Istanbuls. Mit Gesichtsmaske, Einmalhandschuhen und Arbeitskleidung steht sie unter einem Baum im Vorgarten ihres Mietshauses und erzählt die Geschichte der Real-Märkte in der Türkei. Der deutsche Discounter gehört zur Metro-Gruppe und war seit 1998 in der Türkei aktiv. In sechs Provinzen gab es insgesamt 12 Märkte mit rund 1.700 Angestellten. 2014 verkaufte die Metro-Gruppe ihre türkischen Real-Märkte an die Aktiengesellschaft Beğendik, einen türkischen Discounter. 2017 meldete die Firma Konkurs an. Sämtliche Real-Märkte schlossen und hunderte Angestellten bekamen einfach ihre Abfindungen nicht ausgezahlt.
Seither beteiligt sich Altınbulak an Protestaktionen gegen die Beğendik AG und vor Filialen der Metro und des Mediamarkts, die ebenfalls dem ehemaligen Eigentümer der Real-Märkte gehören. Ihre Abfindung wurde zwar auf nur 51.000 Türkische Lira (6.600 Euro) festgesetzt, aber die will sie auch bekommen. Ihr Ehepartner ist stets an ihrer Seite. Insbesondere jetzt, wo er aufgrund der Epidemie für zwei Monate in unbezahlten Urlaub geschickt wurde.
Altınbulak erzählt, dass die Real-Angestellten sich nicht nur mit ihren Arbeitgebern, sondern auch mit ihren gewerkschaftlichen Vertreter*innen anlegen mussten. Sie selbst ist im eher nationalistischen Gewerkschaftsverband Türk-İş organisiert. Doch ihre Gewerkschaft Tez-Koop-İş habe überhaupt nichts für sie getan. Es ist mit 75.000 Mitgliedern die größte Gewerkschaft im Bereich Einzelhandel und Dienstleistungen. Daraufhin wandten sich Altınbulak und ihre Kolleg*innen vom Real an Nakliyat-İş, eine Mitgliedsgewerkschaft der linken DİSK.
Ali Rıza Küçükosmanoğlu ist Vorsitzender von Nakliyat-İş. Er wirft der Tez-Koop-İş vor, sich aus der Angelegenheit herauszuhalten, weil sie auch in den Mediamarkt-Filialen der Metro-Gruppe organisiert ist. Er sagt, nach geltendem Gesetz müsse der vorherige Eigentümer für die Abfindungssumme für die Jahre bis zum Verkauf geradestehen. Hakan Bozkurt von der Tez-Koop-İş will die Vorwürfe so nicht stehen lassen. Schließlich sei seine Gewerkschaft extra an die ver.di-Zentrale in Berlin herangetreten, um Unterstützung für die erfolglosen Verhandlungen mit der Konzernspitze der Metro-Gruppe zu erhalten. “Ich glaube Frau Altınbulak, wenn sie sagt, dass ihre Rechte mit Füßen getreten wurden. Aber nicht von uns. Sie und ihre Kolleg*innen haben sich entschieden, zu einer anderen Gewerkschaft zu wechseln, und das ist ihr gutes Recht.“
Alle Kassen stehen still
Ab August 2017 organisierte die Nakliyat-İş spektakuläre Protestaktionen in Märkten der Metro-Gruppe. Die entlassenen Kolleg*innen taten sich mit den Kassenkräften zusammen. Sie kamen in Gruppen mit vielen Artikeln und blockierten die Kassen, woraufhin die Kassierer*innen die Arbeit niederlegten. So legten sie gemeinsam den Kundenverkehr lahm, um auf die zurückbehaltenen Abfindungszahlungen aufmerksam zu machen. Erstmals wurden die in der Türkei allgegenwärtigen Shopping-Malls zu einem öffentlichen Austragungsort von Arbeitskämpfen.
Kader İpek Altınbulak fand die DİSK-Führung für ihren Geschmack etwas passiv. Da sie daran etwas ändern möchte, ließ sie sich im Februar auf der Mitgliederversammlung als Kandidatin für den Vorsitz des Gewerkschaftsbundes aufstellen. Sie bekam zwar nur 25 Stimmen, aber ihre Kandidatur brachte mehr Sichtbarkeit für ihre Arbeitskämpfe auf der Straße.
Lale* arbeitet seit eineinhalb Jahren in einem Migros an der Kasse. Sie muss derzeit unter widrigsten Bedingungen arbeiten. Wenn freitags und samstags eine der periodischen Ausgangssperren herrscht, ist auch der Migros geschlossen. Die fehlenden Stunden muss das Personal unter der Woche nach der regulären Schicht abarbeiten. Um auf ihre vertraglichen 45 Stunden zu kommen, sitzt sie also an jedem verkaufsoffenen Wochentag 11 Stunden an der Kasse. Im Gespräch mit taz.gazete sagt Lale*: “Es ist nicht richtig, dass wir die Kosten der Ausganssperre tragen müssen.“
Auch Lale* ist gewerkschaftlich organisiert. Zu Anfang habe sich ihre Gewerkschaft Tez-Koop-İş kaum zur Epidemie und den Gesundheitsrisiken für Angestellte verhalten, doch schnell hätten Solidaritätsnetzwerke Druck auf die Gewerkschaft ausgeübt. Die Gewerkschaft habe sich schließlich erfolgreich für eine Arbeitszeitverkürzung eingesetzt. “Sie wollten uns tatsächlich einen Zwölf-Stunden-Tag aufdrücken“, sagt Lale*, “aber wir haben die Gewerkschaft dazu gebracht, für uns einen Elf-Stunden-Tag auszuhandeln.“
“Es ist schön, dass jetzt wegen Corona mal über die Arbeitsbedingungen in Supermärkten gesprochen wird, aber schlimm waren sie schon immer“, sagt Kader Altınbulak. Als sie im Real arbeitete, musste sie flexible Arbeitszeiten mit vielen Überstunden akzeptieren. Wenn die Manager aus Deutschland zur Inspektion kamen, durfte sie nicht von der Kasse aufstehen, auch wenn ihre Schicht vorbei war. “Es gab einige Tage, an denen wir von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr nachts gearbeitet haben“, sagt Altınbulak. Auf die Toilette durften wir nur der Reihe nach, und manchmal hatten wir keine Zeit, um etwas zu essen, weil wir die Kasse nicht schließen durften.“
Der 1. Mai fällt in die wöchentliche Periode der Ausgangssperre. Deshalb gab es schon seit Mittwoch überall in der Türkei dezentrale Aktionen. Viele Gewerkschaften und Berufsorganisationen riefen dazu auf, am 1. Mai “jeden Balkon zu einem Kundgebungsort und die Fenster in öffentliche Räume“ zu verwandeln. Das Thema der Aktionen ist dieses Jahr kurz und griffig: Die Gesundheit der Arbeitenden ist wichtiger als die Profite der Besitzenden.
“Die AKP-Regierung zielt mit ihren Corona-Maßnahmen und Hilfspaketen ausschließlich auf das Wohl der Arbeitgeber ab. Gleichzeitig sind wir Arbeitenden diejenigen, die dafür sorgen, dass das Leben überhaupt weitergehen kann trotz Epidemie“, sagt Ali Rıza Küçükosmanoğlu. Daher wollten die Gewerkschaften zum 1. Mai auch symbolische Aktionen mit wenigen Teilnehmenden organisieren, um den öffentlichen Raum nicht ganz aufzugeben.
In Istanbul wurde die Führung des Gewerkschaftsdachverbandes DİSK von der Polizei verhaftet, als sie mit Schutzmasken zum Taksim-Platz gehen wollte, um einen Kranz für von der Polizei ermordete Arbeiter*innen abzulegen. Dutzende Funktionär*innen, darunter die DİSK-Vorsitzende Arzu Çerkezoğlu, wurden von den Polizei abgeführt. Der Gouverneur hatte keine politischen Kundgebungen erlaubt. Bauarbeiten sind am Taksim-Platz allerdings heute trotz strengen Lock-Downs erlaubt: Im Neubau des Atatürk-Kulturzentrums, einem Prestigeobjekt der AKP, herrscht auch am 1. Mai gezwungenermaßen reger Betrieb.
* Name von der Redaktion geändert
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
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