Arabische Proteste machen Corona-Pause: Die Straße wartet
Die Massenproteste in Algerien, Irak und Libanon pausieren wegen Corona. Aber die Protestbewegungen wollen weitermachen, sobald es geht.
Da ist für manch bedrängtes Regime die Coronapandemie jetzt fast ein Rettungsanker. Die meisten Demonstranten sind nach Hause gegangen, in vielen Ländern herrscht Corona-Ausgangssperre.
Auf dem Tahrirplatz in Bagdad, dem Zentrum der Proteste im Irak, gaben sich die Demonstranten Anfang März noch trotzig. „Unsere Regierung ist eine größere Epidemie als das Coronavirus, deswegen demonstrieren wir weiter“, hieß es. „Trotz Corona werden wir erst nach Hause gehen, wenn unsere Forderungen erfüllt sind“, gab der junge Demonstrant Ahmad Hussein damals die Stimmung wieder. Mit 700 Toten bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften seit Oktober schien das Coronavirus zunächst das kleinere Übel.
Seitdem hat der Coronaschrecken aber auch im Irak zugenommen, auch weil der benachbarte Iran einer der weltweit größten Epidemieherde ist. Am 17. März verhängte Iraks Regierung eine ganztägige Ausgangsperre.
Coronakrise schafft neue Aufgabenfelder für die Bewegung
„Aber es gibt noch einige Demonstranten in den Protestzelten auf dem Tahrirplatz. Es sind nicht viele und sie halten sich meist in den Zelten auf“, erzählt am Telefon Shorouk al-Abaji, Vorsitzende der „Nationalen Zivilbewegung“, einer der Koordinationsgruppen der Protestbewegung.
„Sie versuchen auch den Ort und die Zugänge zu desinfizieren. Das Material dazu wird gespendet. Aber das ist alles nicht einfach, da wegen der Ausgangssperre kaum jemand Neues auf den Platz kommen kann. Auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist schwierig.“
Die Regierung versuche die Situation auszunutzen, meint Shorouk, die in Wien Bauingenieurwesen studiert hat. Die Sicherheitskräfte hätten in den letzten Tagen zweimal versucht, den Platz zu räumen, aber die Demonstranten hätten sie abgewehrt. „Der Tahrirplatz bleibt in den Händen der Demonstranten. Trotz der geringen Zahl der Protestierenden, die noch dort sind, bleibt der Platz ein Symbol für das Durchhaltevermögen des Aufstands“, sagt sie trotzig.
Mit der Coronaepidemie hätten die jungen Protestierenden sogar ein neues Aufgabenfeld gefunden, schildert Shorouk. „Die Menschen auf dem Tahrir organisieren Kampagnen in den sozialen Medien, um Bewusstsein zu schaffen, wie man sich vor dem Coronavirus schützt. Sie arbeiten vor allem daran, den Menschen in den Armenvierten beizubringen, wie sie saubermachen und alles desinfizieren. Sie haben begonnen, Sammlungen für die Familien derer zu organisieren, die wegen der Ausgangssperre ihre Arbeit verloren haben: Straßenhändler, Taxifahrer und viele Tagelöhner in den Armenvierteln.“
Libanon: „Unsere Probleme sind dieselben, unsere Forderungen auch“
Eine ähnliche Veränderung ist in Libanons Hauptstadt Beirut zu beobachten. Seit 15. März befindet sich das Land im Corona-Lockdown. Die Grenzen sind geschlossen, Schulen, Universitäten, Restaurants und Bars dicht, Kulturveranstaltungen abgesagt. Auf die Straße gehen darf nur noch, wer Lebensmittel, Medizin oder Benzin benötigt. Wer joggt oder spaziert, bekommt einen Strafzettel vom Militär. Soldaten laufen die Straßen ab, um Menschen nach Hause zu schicken. „Bitte bleiben Sie zu Hause. Es geht um Ihre Gesundheit“, dröhnt es verzerrt aus dem Militärhubschrauber, der am strahlend blauen Himmel über Beirut fliegt.
Hashisho, Aktivistin in Libanon
Vor fünf Monaten standen den Sicherheitskräften noch Tausende Menschen gegenüber. Sie bildeten Menschenketten und sperrten die Straßen mit Sitzblockaden, sie zwangen die Regierung zum Rücktritt. Doch nun fehlt der Raum für öffentlichen Protest. „Natürlich haben die Revolutionäre ihre Aktivitäten eingestellt, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern“, sagt Nivin Hashisho, eine linke Aktivistin in Saida. In der südlibanesischen Stadt stehen noch immer Stühle, Tische und eine Bühne auf dem nun unbelebten Protestplatz.
Der Fokus liegt nun auf der Notversorgung: „Jeden Tag kochen wir Mittagessen und spenden es an arme Familien“, erzählt Hashisho. Im ganzen Land ergreifen Freiwillige die Initiative, sammeln Spenden für Bedürftige, messen Fieber an Stadteingängen oder verteilen Desinfektionsmittel.
Doch Hashisho bleibt kämpferisch: „Der Rückzug von den Straßen heißt nicht, dass unsere Probleme gelöst sind. Unsere Probleme sind noch immer dieselben und unsere Forderungen auch.“ Das zeigt sich vor allem an den wenigen Menschen, die noch immer lautstark protestieren: Taxifahrer:innen, denen Einnahmen fehlen; Gefängnisinsassen, die mit Hungerstreiks auf die schlechten Haftbedingungen aufmerksam machen. In Tripoli gingen Menschen auf die Straße, um gegen die Ausgangssperre zu protestieren. Eine Frau rief den Militärs zu: „Wir hungern, wir wollen essen!“
Algerien: Verzwickte Lage für Bewegung und Regierung
Die Proteste machen Pause, die Gründe für die Proteste bleiben – so stellt sich die Lage auch in Algerien dar, wo die Protestbewegung gegen die etablierte Staatsführung bereits mehr als ein Jahr alt ist und das Land in heftige Turbulenzen gestürzt hat. Erst letzte Woche hat die Protestbewegung „Hirak“ ihre allwöchentlichen friedlichen Massendemonstrationen eingestellt und damit ihr wirkungsvollstes Druckmittel gegen die herrschende Elite auf Eis gelegt. Erstmals seit 57 Wochen herrscht jetzt gähnende Leere auf Algeriens Straßen.
Doch am Dienstag wurde Algeriens Linkspolitiker Karim Tabbou in einem unangekündigten Berufungsprozess zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Eigentlich hätte er am Donnerstag nach dem Absitzen einer sechsmonatigen Haftstrafe entlassen werden sollen. Seine Anwälte wurden über das Berufungsverfahren nicht einmal informiert.
Die Protestbewegung wertet das Urteil als Provokation. Nun mehren sich Aufrufe, die Proteste am Freitag doch wieder aufzunehmen, während andere genau davor warnen: Man drohe geradewegs in eine Falle zu laufen, schließlich lauere die Staatsführung nur darauf, der Bewegung vorwerfen zu können, durch die Proteste die Ausbreitung des Coronavirus zu befördern.
Protestbewegung und Regierung in Algerien stecken dabei gleichermaßen in einer verzwickten Lage. Ende Februar schon wurde Algeriens erster Corona-Infektionsfall bestätigt, doch die Hirak-Bewegung mobilisierte munter weiter und reagierte mit Sarkasmus: „Weder Coronavirus noch Cholera werden uns stoppen“ oder „Corona macht uns keine Angst, wir sind im Elend aufgewachsen“, hallte es noch vor zwei Wochen durch die Straßen Algiers. Kurz darauf aber stiegen die Infektionsfälle massiv an.
Sollte die Pandemie hart zuschlagen, werden die Proteste umso größer
Inzwischen gilt auch in Algerien ein landesweites Versammlungsverbot. Grenzen, Märkte und Moscheen sind geschlossen. Die Akivist*innenszene mobilisiert derweil weiter – im Internet. Sie ruft dazu auf, den Krankenhäusern mit Geld- und Sachspenden unter die Arme zu greifen.
Denn die Behauptung der Regierung, die Versorgung der Krankenhäuser sei sichergestellt, könnte nach hinten losgehen. Bereits jetzt mangelt es den Kliniken an Schutzmasken, Desinfektionsmitteln und Beatmungsgeräten. Selbst Patienten mit Covid-19-Symptomen werden nach Hause geschickt.
Sollte die Pandemie Algerien tatsächlich hart treffen und das gesundheitspolitische Versagen der Regierung in einem Desaster enden, dürften die Proteste in einigen Wochen umso heftiger wieder aufflammen.
Im Libanon verschärft der Corona-Lockdown derweil die wirtschaftliche Notlage. Tausende Menschen haben ihre Arbeit verloren, die lokale Währung verfällt. Nun schließen Banken ihre Filialen. Geschäfte werden pleitegehen. „Nachdem die Coronakrise vorüber ist, werden wir sofort wieder auf die Straße gehen“, ist sich Aktivistin Hashisho sicher. „Uns bleibt keine andere Wahl.“
Und auch im Irak ist sich Aktivistin Shorouk sicher: „Die Menschen werden wieder massiv auf den Straßen demonstrieren, sobald diese Epidemie vorüber ist.“ Diejenigen in Bagdad, die weiter auf dem Tahrirplatz ausharren, schicken unterdessen auf den sozialen Medien eine klare Videobotschaft an ihre Anhänger: „Wir bleiben für euch auf dem Tahrirplatz – bleibt ihr für uns zu Hause.“
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