Anti-Kraker in den Niederlanden: Moderne Nomaden
Gegen Hausbesetzer oder Kraker gibt es ein Mittel: Anti-Kraker. Sie bewohnen und bewachen leerstehende Immobilien auf Zeit.
ARNHEIM/EINDHOVEN taz | An diesem frühen Morgen sollte hier eigentlich Hochbetrieb herrschen. Stattdessen ist es so still auf dem Schulgelände mitten in der Stadt Arnhem, dass man den Wind leise in den Bäumen rauschen hört. Ich drücke die Klingel neben der enormen Holztür. Jeroen Brouwer, Regiomanager von H.O.D. in der Provinz Gelderland, öffnet und empfängt zum Hausbesuch. H.O.D. Nederland ist ein landesweit operierender Immobilienverwalter mit Sitz in Utrecht. Leerstehende Gebäude schützen ist die Dienstleistung, die diese Firma verkauft. Der schlanke 29-Jährige weist den Weg durch ein tomatenrotes Treppenhaus, durch grasgrüne Flure, vorbei an Klassenzimmern im Blau der Kornblumen. "Die Theatergruppe, die das Gebäude vor uns genutzt hat, hat gestrichen", sagt er. Wohl in Ekstase: Die hohen Wände, die riesigen Decken, die großen Fensterrahmen, teilweise sogar die Scheiben - alles leuchtet.
Kraken: Gebäude besetzen ist in den Niederlanden legal, sofern sie ein Jahr lang leer standen. Man bringt Tisch, Stuhl und Matratze mit und ruft die Polizei, um die Besetzung feststellen zu lassen. Die Räumung erwirkt ein Eigentümer, indem er vor einem Richter konkrete Nutzungspläne nachweist. Wie viele Kraker es gibt, ist unbekannt. In Amsterdam schätzungsweise 2.000.
Anti-Krak: Eigentümer leerstehender Objekte schalten Immobilienverwalter ein, die dafür sorgen, dass Immobilien befristet bezogen werden, bis die weitere Nutzung geklärt ist. Weil die Immobilie nun bewohnt ist, darf sie nicht mehr besetzt werden. Schätzungsweise 30.000 Leute wohnen anti-krak.
Krak-Verbot: Die regierenden CDA (Christdemokraten), ChristenUnie (Calvinisten) und die oppositionelle liberale Partei VVD wollen Kraken verbieten und unter Strafe stellen sowie eine Meldepflicht für leerstehende Immobilien einführen, verknüpft mit einer Frist, in der Eigentümer die weitere Nutzung regeln müssen. Dieser Vorschlag liegt dem Parlament zum Abstimmen vor. G.S.
In Schnörkelschrift steht der Name "Bente" an einer Tür. Dahinter liegt ihr Reich. In dem geräumigen Klassenzimmer hat Bente Mouchart, 22, ihre Möbel zu Inseln arrangiert: kochen und essen, wohnen, schlafen. Durch die schönen alten Fenster flutet Sonnenlicht. Die gut gelaunte Frau zeigt die andere Hälfte ihrer Wohnung. Ein Zimmer zum Wäschetrocknen. Im anderen Klassenzimmer steht eine Musikanlage, Tennisschläger baumeln dekorativ von der hohen Decke. Hier hat sie Silvester mit Freunden gefeiert.
"Anti-Krak-Wohnen ist ein Fest", sagt Bente Mouchart. "Die Großzügigkeit der Räume inspiriert mich." Sie empfindet es als "puren Luxus, so viel Platz zu haben". Und sie reizt "das Abenteuerliche dieser Lebensform". Falls Bente in ein paar Tagen ausziehen müsste, wäre sie neugierig auf das, was kommt. Denn so lautet der Deal mit H.O.D. Nederland: 175 Euro im Monat zahlt Bente pauschal für Wasser, Gas, Strom, dafür ist sie an eine zweiwöchige Frist zum sofortigen Aus- oder Umzug gebunden. Wenn H.O.D. weiß, dass eine Immobilie gebraucht wird, werden die Bewohner auch früher informiert. Dass H.O.D. ein Objekt zum Weiterwohnen zu bieten hat, ist eine Option, aber nicht garantiert. Über diese Klausel sollte jeder gut nachdenken. Erstens herrscht chronische Wohnungsnot in den Niederlanden, zweitens führen manche "Anti-Kraker" die Existenz von Nomaden. Sie ziehen in einem Jahr viermal um.
"Unsere Bewohner sind flexible Menschen", beschreibt Freek Ossendrijver, Direktor von H.O.D. Nederland, seine Klientel während eines Termins in seinem Büro. Anti-Kraker - er nennt sie "Betreuer" - kämen häufig aus freien Berufen, seien Musiker, Künstler. "In den Großstädten Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Utrecht wohnen viele Studenten für uns. Jeder, der Wohnraum sucht, könnte Kunde sein. Menschen, die aus dem Ausland zurückkommen, Leute, die in einer anderen Stadt einen Job gefunden haben, aber noch keine Wohnung, Menschen, deren Beziehungen oder Ehen scheitern." Der Mann sitzt in einem Büro mit einem geräumigen Panzerschrank voller Akten in einem Gebäude, das versteckt liegt in einem Utrechter Gewerbegebiet.
Anti-Krak-Wohnen ist ein Trend der letzten zehn Jahre - und das Pendant zur in die Jahre gekommenen Kraker- oder Hausbesetzerbewegung. Ist das überhaupt so? Früher habe H.O.D. schon mal Besuch von Krakern erhalten, erinnert sich Freek Ossendrijver. Computer wurden gestohlen, verschiedentlich seien Kraker an die Auftraggeber herangetreten. Inzwischen sei Anti-Krak gesellschaftlich akzeptiert. In den Niederlanden sind diverse Firmen auf diesem Markt aktiv. Vermittelt wird, was zum Wohnen taugt: Schulen, Krankenhäuser, Büros, Kasernen, Wohnboote, Wassertürme, normale Wohnhäuser, Landgüter, Schlösser. Immobilien schützen, betont Freek Ossendrijver, und das ist ihm wichtig, beinhalte weit mehr, als nur dem Kraken vorzubeugen. H.O.D. sorge dafür, dass eine Nachbarschaft in Folge von Leerstand nicht verkommt, sondern die Lebensqualität erhalten bleibt. Es gebe auch weniger Einbrüche und weniger Vandalismus durch Anti-Krak.
Einfach anrufen und melden, dass man ein Obdach sucht, geht übrigens nicht. "Wir haben ein geschlossenes Referenzsystem", erklärt der Immobilienverwalter. "Jemand, der für uns wohnt, kann eine Person vorschlagen, die für uns wohnen möchte. Wir suchen Menschen, die gut auf die Gebäude aufpassen. Dieses Referenzsystem gibt uns Sicherheit."
"Wenn Bewohner etwas Verdächtiges wahrnehmen, sollen sie es melden", berichtet Jeroen Brouwer. Er wohnt seit vier Jahren ununterbrochen anti-krak, Bentes sanierungsbedürftige Schule war auch einmal sein Zuhause. In manchen Räumen fällt großflächig Putz von den Wänden, Regenwasser ist eingedrungen. Wer für H.O.D. wohnt, muss die Räume so zurückgeben, wie er sie übernommen hat. Das heißt konkret: keinen Nagel in die Wand schlagen, mit den Farben leben, die da sind. Möchte man etwas verändern, braucht es eine schriftliche Genehmigung. Gäste, die länger als eine Nacht bleiben, müssen angemeldet werden, außerdem hat H.O.D. einen Schlüssel und damit im Prinzip stets Zutritt.
Um die Schule fit zu machen, hat H.O.D. Duschen in den Toiletten eingebaut. Bente Mouchart teilt die sanitären Anlagen mit einer anderen Person, die sie selten sieht. Mit den übrigen zwei Hausgenossen hat sie nichts zu tun. Die junge Frau - sie ist aus ihrem Elternhaus hierhergezogen - würde selbst niemals kraken. "Das passt nicht zu mir", sagt sie.
Leidenschaftliche Besetzer hingegen sind Lisa Lehner, 27, und ihr Gefährte Michael Monhemius, 22. Lehner stammt aus Wien, arbeitet als Sprachassistentin und lebt seit September 2007 in den Niederlanden. Mit acht Verbündeten hat das Paar im Dezember 2008 einen Bürokomplex von Philips im Zentrum der Stadt Eindhoven besetzt. Seither verfügen sie über 360 Zimmer oder 11.000 qm. Weil das viel ist, gibt es inzwischen 110 Mitstreiter. Manche nutzen die Büros nur als Atelier, aber 70 Personen leben hier, darunter viele Studenten der Universität Eindhoven und der Design Akademie. "Wir haben ausgesucht, mit wem wir wohnen wollen. Schwere Alkoholiker oder Drogenabhängige haben wir nicht aufgenommen", erläutert Michael Monhemius während eines Besuchs im besetzten Haus das Vorgehen der Besetzergruppe. "Wir sind sehr sozial eingestellt. Wenn wir zu der Ansicht gelangt sind, dass wir jemandem mit dieser Umgebung weiterhelfen können, haben wir ihn aufgenommen."
Die quicklebendige Lisa Lehner freut sich über die kreative Atmosphäre im Haus. Gut die Hälfte der Bewohner sei künstlerisch aktiv. Sie selbst macht Musik und Collagen, ihr Freund malt. "Es gibt hier so viele Disziplinen", erzählt sie, stimulierend sei das. Videokünstler, Bildhauer, Fotografen, DJs, Siebdrucker, Musiker. Die Bewohner organisieren Ausstellungen, um sich der Öffentlichkeit vorzustellen, und ab und zu interne Feste. Im vierten Stock dient ein Raum als Galerie, nebenan ist viel Platz zum Tanzen und eine Bar.
"Manche Leute kraken nur, um Feste zu geben", sagt Michael Monhemius. "Das ist mir zu wenig Verantwortungsgefühl für das Gebäude und für die Hausbesetzerbewegung." Wie groß die ist? Er weiß es nicht. Er krakt, seit er 16 ist. Das nomadische Leben, das damit verbunden ist, findet er gesund. Er versteht Kraken als Statement, dass er bestimmte Regeln nicht erfüllen will. "Ich bin gegen dieses System, weil es Menschen abhängt."
Eine gute Organisation des Zusammenlebens war den Besetzern von Anfang an wichtig. "Es kostet Mühe und Disziplin, ist aber notwendig", erzählt die junge Frau. Jeder zahlt pro Monat 40 Euro für Profi-Reinigungskräfte - die auch im Haus wohnen - und für den Abfallcontainer, den sie sofort geordert haben. Es sieht tipptopp aus bei einem Rundgang durch den enormen Komplex.
Aufs Anti-Kraken angesprochen, sagt Michael Monhemius, es reduziere die Chancen für Kraker drastisch. Anti-Krakern gehe es nur ums billige Wohnen, "das ist keine Bewegung und hat keine Ideologie". "Das ist auch keine echte Leerstandspolitik", merkt Lisa Lehner an, weil in einem so großen Haus wie dem Eindhovener Bürokomplex dann nur sechs Leute wohnen würden - statt der 110 Menschen, die es jetzt nutzen.
Was ein mögliches Krak-Verbot angeht, reagieren die beiden Kraker total cool. "Gekrakt wird sowieso, und vielleicht bringt der Widerstand dagegen ja frischen Wind in die Szene."
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