Anschlagsserie im Irak: Terror im letzten Refugium
Bei der Anschlagsserie am Dienstag sind in der Region Ninive nach neueren Angaben rund 500 Menschen gestorben. Vertrieben vom Militär weichen Terrorzellen auf friedliche Regionen aus.
Nach den verheerenden Terroranschlägen vom Dienstag im Nordirak sind weitere Opfer geborgen worden. Wie der Korrespondent des arabischen Nachrichtensenders Al-Dschasira am Mittwochabend unter Berufung auf Krankenhausärzte berichtete, sind bei dem Attentat auf zwei Dörfer in der Nähe von Mossul etwa 500 Menschen ums Leben gekommen. Laut CNN-Recherchen könnten es noch mehr sehr sein.
Es war die schlimmste Anschlagsserie seit dem Sturz von Saddam Hussein im April 2003. Vier mit Sprengstoff beladenen Lastwagen sind am Dienstagabend in zwei Orten der Provinz Ninive in die Luft gejagd worden - mitten in Wohngebieten. Mindestens 30 Häuser wurden zerstört. Die Verletzten wurden bis in die hundert Kilometer entfernte Stadt Dohuk gebracht. Dachil Kasim Hassun, der Bürgermeister der Kreisstadt Sindschar, zu der die beiden Dörfer gehören, sagte: "Das ist das größte Massaker in der Geschichte von Sindschar. Die Explosionen haben auf einer Fläche von einem Quadratkilometer alles zerstört."
In Khatania und Adnanijay westlich von Mossul, wo sich die Anschläge ereigneten, leben mehrheitlich Angehörige der Minderheit der Jesiden. Vor einer Woche hatte die Organisation Islamischer Staat im Irak die Bewohner der Region auf Flugblättern vor einem Anschlag gewarnt und die Jesiden als antiislamisch bezeichnet. Zu den Anschlägen bekannte sich zunächst niemand. Die USA sehen al-Qaida als Hauptverdächtigen.
Seit Februar findet im Irak eine Offensive der US-Truppen und der irakischen Armee gegen Terroristen und Aufständische statt. Diese konzentriert sich vor allem auf den Großraum Bagdad und die sunnitischen Provinzen. Dort ist die Zahl der Anschläge auch gesunken. Doch die gestrigen Selbstmordattentate verstärken die Befürchtungen, dass die Attentäter in Regionen ausweichen, in denen die militärische Präsenz relativ gering ist. Hinzu kommt, dass sich viele Kämpfer rechtzeitig absetzen, wenn in ihrer Region eine Offensive bevorsteht.
Hochrangige US-Militärs haben auch festgestellt, dass bei einem frühzeitigen Rückzug aus einer als befriedet geltenden Region und deren Übergabe an schlecht ausgebildete irakische Truppen die Kämpfer erneut einsickern. Die Zahl der US-Soldaten in der Provinz Ninive ist bereits verkleinert worden. Die Stadt Tall Afar, 40 Kilometer westlich von Mossul, wurde von US-Präsident George W. Bush als Beispiel für den Erfolg der US-Strategie genannt. Nach einer kurzen Phase der Ruhe im Frühjahr hat die Gewalt dort wieder zugenommen.
Wie die Los Angeles Times am Mittwoch berichtete, wird der US-Oberkommandierende im Irak, David Petraeus, in seinem für Mitte September erwarteten Bericht an den Kongress in Washington vorschlagen, die Truppen im Zweistromland umzugruppieren. Soldaten aus relativ sicheren Gebieten sollen abgezogen und andernorts eingesetzt werden oder in einer Reserveeinheit für Notfälle zur Verfügung stehen. Hochrangige Militärs hätten in Hintergrundgesprächen angedeutet, dass die Provinz Ninive oder die sunnitische Provinz Anbar für einen Rückzug in Frage komme.
Der Nahostexperte Guido Steinberg von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik sieht die Perspektiven für das Land düster. In der gestern vorgestellten Studie "Der Irak zwischen Föderalismus und Staatsverfall" sieht er neben der Gefahr des Staatszerfalls auch die der Intensivierung der Gewalt sowie regionaler Gewalteskalation. "Die einzig realistische Strategie", sagt Steinberg, liege in einer "weitgehenden Dezentralisierung staatlicher Funktionen".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!