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Anrufhuren im Sprudelbecken

Berlins Innensenator Eckart Werthebach möchte per Gesetz die deutsche Sprache retten

Soll später wenigstens niemand behaupten, er habe von alledem wieder einmal nichts gewusst

Die Alarmglocken schrillten, hell und laut. Zumindest bei Berlins Innensenator Eckart Werthebach. Während sich alle Welt mit der schrecklichen Vergangenheit von Ministern beschäftigte, sah Berlins Innensenator Eckart Werthebach am vergangenen Wochenende in eine noch schrecklichere Zukunft. Die Zukunft der deutschen Sprache, die laut Werthebach dringend ein Sprachschutzgesetz benötige. Seine erschütternde Erkenntnis: Die deutsche Sprache wird von einer „Flut englischer Worte zernagt“. Das soll dem amtlichen Sprachschützer erst mal einer nachmachen, eine Flut die deutsche Sprache zernagen zu lassen. Nun gelte es, so Werthebach, „die weitere Verdrängung und Verarmung der deutschen Sprache auch gesetzgeberisch zu verhindern“.

Verarmung der Sprache? Vertreibung von Wörtern? Werden Wortfamilien womöglich brutal auseinander gerissen? Gibt es einen sprachlichen Genozid? Und das vor unser aller Ohren, im Land der Dichter und Denker? Unvorstellbar! Sollte man meinen. Und doch, die eingehende Recherche bestätigte es: Hunderte deutscher Wörter fristen ein tonloses Dasein, müssen sich in Buchstabensuppen und Russisch-Brot-Tüten verstecken. Totgeschwiegen von der Bevölkerung, ausradiert von der Amerikanisierung des Alltags. Von Anglizismen hinter Sprachbarrieren verbannt. Verfemt. Verfolgt. Vertrieben.

Die Wahrheit gewährt diesen geschundenen Wörtern nun Zuflucht, bis zu ihrem endgültigen gesetzlichen Schutz. Und stellt sie heute erstmals der Bevölkerung vor. Ein Einblick in das düstere Kapitel der Wortvertreibung. Ein Ausblick in die Werthebach’sche Sprachzukunft.

Wohl am schlimmsten gewütet haben die anglizistischen Besatzer im Bereich der Spaßsportarten. Weder von Gummiseilstürzen ist dort die Rede, noch von Bergradfahren oder Strandflugball. Junge Leute wissen oft gar nicht, dass sie Roll- oder Schneebrett fahren, dass sie freiklettern oder brettsegeln. Weder gehen sie zum Körperbauen in ein Zentrum für gute körperliche Gesamtverfassung, noch halten sie sich mit einem Heim-Sportgerät in Form.

Grässlich überschwemmt hat der Zahn der englischen Wörter auch die Unterhaltungselektronik: Niemand hört die Oberen-Zehn-Schlager über Wanderschaller an. Auch von Lauttönern aus abgesonderten Wohnvierteln ist nicht die Rede. Kapellen haben keine Gruppies, und auf Schallplattenveröffentlichungsfesten legen keine PAs auf. Neu ist diese sprachliche Ignoranz nicht: Jahrzehntelang weigerte sich das ZDF, Dieter Thomas Heck die ZDF-Trefferparade musikalischer Verkaufsschlager ansagen zu lassen. Da verwundert es nicht, dass Hollywood nicht für Aktions- und Schreckensfilme, gar Nervenreißer wirbt.

Fatale Folgen hat die Verpflanzung fremder Wörter ins Deutsche allerdings im Berufsleben. Werthebach weiß: „Wenn zukunftsweisende Erfindungen wie das Internet allen Bevölkerungsschichten nahe gebracht werden sollen, kann das nur in der Landessprache erfolgen.“ Sprechen wir also vom Weltrechnernetz. Unsere weiche Ware speisen wir besser von Magnetscheiben in die Rechner. Oder aus dem Nur-Lese-Speicher einer Kompaktschallplatte. Und sobald wir auflinie sind, können wir im Weltweiten Wälzer von Heimatseite zu Heimatseite blättern. Wer einen Schlepprechner besitzt, kann auch von unterwegs E-Briefe verschicken.

Doch die sprachliche Säuberung hat alle Bereiche durchdrungen: nicht nur die neuen Medien, sogar das älteste Gewerbe der Welt. So gibt es wohl erst nach dem Werthebach-Gesetz in Nachtschenken Ausziehtänze zu sehen. Wer will, kann sich dann mit Anrufhuren in Sprudelbecken entspannen. Der Schenkenwächter reicht dazu Mischgetränke. Wenn die Kleidungsausstattung für den Nachtverein stimmt: Statt T-Hemd und Überzieher trägt man Raucher und Wettermantel.

Klar ist: Stehbeifall wird Werthebach für sein Projekt – oder sagen wir deutscher: Vorhaben – vom Hauptstrom nicht bekommen. Anhänger-Vereine gewinnt man so nicht. In einem Land, in dem selbst die Duden-Redaktion den Kinderhüter nicht kennt, die Lebensmittenkrise verschweigt. Werthebach ahnt: „Wenn hier nicht gesetzlich gegengesteuert wird, sprechen wir deutsch bald nur noch am Frühstückstisch.“ Wo wir unser Röstbrot im Röster rösten. Während eine Sturzwelle englischer Worte unsere Sprache zerfleischt. PHILIP MEINHOLD

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