■ Finsternis etc.: Anno 1961
Natürlich kann ich mich an die letzte große Sonnenfinsternis erinnern. Ich habe sie ja in meinem eigenen Leben selbst erlebt. In meiner Erinnerung ein sonniger Februarmorgen 1961: Nach der großen Pause durften wir im Schulhof bleiben. Schon vorher beim Herrn Wagner hatten wir alles darüber gelernt. Früher war die Welt ja jedes Mal untergegangen, und die Vögel stürzten vom Himmel.
Außerdem hatten wir beim Herrn Wagner auch das Rechnen gelernt. Vorne, neben der Tafel, an so einer Art Rechenmaschine, legte er mit dem Stock immer so kleine Scheiben und Ringe um. Die mussten wir dann zusammenzählen oder abziehen oder malnehmen, je nachdem. Was für ein praktischer Lehrer der Herr Wagner war: Mit dem Stock bediente er nicht nur die Rechenmaschine, er zeigte auch auf dich, wenn du dran warst, und obendrein schlug er dir noch auf den Kopf damit, wenn du zum Fenster rausgeträumt oder einfach auf das Ergebnis nicht hast kommen wollen. Geschlagen wurden wir nur zu unserem Besten. Schließlich sollten wir werden wie sie!
Jetzt im Hof war das alles selbstverständlich für immer vergessen. Wir rannten rum, es wurde dunkler, aber nicht ganz. Niemals einfach so in die Sonne gucken! Sofort bist du blind und das ganze zukünftige Leben stellst du dir vor mit gelber Armbinde und drei schwarzen Punkten drauf. Noch besser mit einem Blindenhund, dem treuesten Freund des Menschen überhaupt! Bevor es ganz dunkel wurde, wurde es schon wieder hell, es war ja nur eine teilweise Sonnenfinsternis diesmal, und da, mir scheint, in die aufgehende Sonne hinein, kommt mir der Thomas aus der Freudenstädter Straße entgegen, direkt auf mich zu.
Thomas wusste so gut wie alles, er hatte das Hobby abonniert und mindestens 100 Wikingautos zu Hause. Einmal hat er mir im Garten in der Freudenstädter Straße erklärt, dass diese geheimnisvollen, mit einer Nadel in das silbrige Butterpapier eingestanzten Zahlen dem Fachmann (Fachfrauen gab es auch, aber das waren meistens Mütter und für das Allgemeine zuständig) das Verpackungsdatum anzeigen: ein Code! Und dass es Menschen gäbe, die forderten, das Datum statt des Codes einzustanzen. Das war meine erste Begegnung mit dem Verbraucherschutz und ich war 11.
Mit der Sonnenfinsternis hat das aber nichts zu tun. Als er jetzt auf mich zukommt, fragt er nicht „Wie alt bis du?“ oder „Wann hast du Geburtstag?“, sondern: „Welcher Jahrgang?“ Wie ein Erwachsener! Genau wie der Metzger Krauß vom Vorstadtplatz, der mich auch nie fragt „Wie heißt du?“, sondern: „Wem gehörst du?“ Fragt mich nach dem Jahrgang und fängt in seinem Kopf zu rechnen an. „1999“, sagt er, „da ist die nächste totale (er sagt tatsächlich totale) Sonnenfinsternis, da bist du dann 47.“ Ein Gefühl von Unsterblichkeit breitet sich in mir aus, und wir müssen beide aus Verlegenheit lachen. Rudi Deuble
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