Anna-Politkowskaja-Preis: Kaiserschnitt im Handylicht
„Reach all women in war“ ehrt die ukrainische Geburtshelferin Tetjana Sokolowa und die russische Aktivistin Swetlana Gannuschkina.
Jährlich zum 7. Oktober, dem Jahrestag der Ermordung der Journalistin und Menschenrechtlerin Anna Politkowskaja, vergibt die in London ansässige Organisation „Reach all women jn war“ den Anna-Politkowskaja-Preis an Frauen, die unter den Bedingungen von Kriegen für das Leben und Überleben kämpfen. Preisträgerinnen dieses Jahr sind die ukrainische Geburtshelferin Tetjana Sokolowa und die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina.
Zwei Monate hatte Tetjana Sokolowa in Mariupol ausgeharrt, und hatte dabei die meiste Zeit im Keller einer zerstörten Entbindungsklinik in Mariupol ausgeharrt und Frauen beigestanden, die in den Trümmern und unter dem Bombenhagel von Mariupol nicht wussten, wie und wo sie ihre Kinder zur Welt bringen konnten. 27 Kinder konnten so dank Tetjana Sokolowa im Keller einer Klinik in Mariupol das Licht der Welt erblicken. Ohne Licht, Strom, Heizung. Zusammen mit drei Ärztinnen war die Hebamme in Mariupol geblieben, mehr als einmal hatten sie eine Kaiserschnittgeburt unter dem Licht eines Mobiltelefons durchgeführt. Schließlich ist sie Ende April zusammen mit ihrem herzkranken Mann Richtung Westukraine geflohen.
„Unsere Arbeit ist vielleicht nicht so bedeutend wie die von Anna Politkowskaja, aber ich möchte wirklich daran glauben, dass diese 27 Neugeborenen zu Journalisten und Schriftstellern heranwachsen werden, zu klugen und mutigen Menschen, die Licht und Gutes in eine Welt bringen, in der es noch so viel Böses gibt. Ich habe das Glück, überlebt zu haben und den Menschen von diesem Krieg erzählen zu können und sie aufzufordern, zu lieben und nicht zu töten“, zitiert „Reach all Women in War“ die ukrainische Preisträgerin.
Am 80. Geburtstag auf einer Polizeistation
Das hätte sich Swetlana Gannuschkina, die seit Ende der 1980er Jahre für Flüchtlinge und Migranten in Russland kämpft, nicht träumen lassen, dass sie ihren 80. Geburtstag auf einer Moskauer Polizeistation verbringen muss. Die Vorsitzende der Flüchtlingsorganisation „Ziviler Beistand“, Vorstandsmitglied des Menschenrechtszentrums Memorial und Trägerin des Alternativen Nobelpreises von 2016, hatte sich ausgerechnet am 6. März, ihrem 80. Geburtstag in einer Moskauer Polizeistation in einem Verhör erklären müssen. Der Vorwurf: Sie habe sich an einer nicht genehmigten Veranstaltung gegen die „Sonderoperation in der Ukraine“ beteiligt. Gannuschkina nimmt kein Blatt vor den Mund. Auch wenn es in Russland verboten ist, von Krieg zu sprechen, spricht sie vom „Krieg Russlands gegen die Ukraine“.
Angefangen hatte ihr Einsatz für Flüchtlinge aus dem armenisch-aserbaidfschanischen Krieg Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, die in Moskau Schutz vor Verfolgung und Krieg gesucht hatten. Dem Karabach-Krieg folgten Kriege in der Republik Moldau, Inguschetien, Nordossetien und Tschetschenien. In all diesen Kriegen war Gannuschkina regelmäßig vor Ort, half den Fliehenden, in Russland unterzukommen.
Ihr schlimmster Tag, so Gannuschina zur taz, sei der 24. Februar 2022 gewesen, als Russland einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hatte. Und auch hier war sie zur Stelle, stand weiter mit ukrainischen MenschenrechtlerInnen im Dialog, half ukrainischen Flüchtlingen, und ging mehrfach in Moskau mit einem Anti-Kriegs-Plakat auf öffentliche Plätze und Straßen.
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