Anis Amri und die Rigaer Straße: Eine Frage der politischen Prioritäten
Hat die Polizei die Observierung des Breitscheidplatz-Attentäters eingestellt, um sich auf die Räumung der Rigaer Straße zu konzentrieren?
Nun mehren sich Hinweise darauf, dass beide Einsätze miteinander in Verbindung stehen. Darauf deutet etwa eine Zeugenaussage im Untersuchungsausschuss „Terroranschlag Breitscheidplatz“ des Abgeordnetenhauses hin. In der öffentlichen Sitzung am vergangenen Freitag war der damalige stellvertretende Leiter der Mobilen Einsatzkommandos (MEK) geladen. Die Polizeieinheit der für „operative Dienste“ zuständigen Abteilung sechs des Landeskriminalamts (LKA) ist vor allem für Observationen zuständig, in Fällen von organisierter Kriminalität, Terrorismus oder Linksextremismus.
Von Benedikt Lux, dem Sprecher für Innen- und Rechtspolitik der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, wurde der Zeuge gefragt, ob zum Zeitpunkt der Beendigung der Überwachung Amris noch andere Themen auf der Tagesordnung gestanden hätten – etwa Linksextremismus. Die Antwort des Staatsschützers lautete, so Lux, sinngemäß: „Ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen. Ja, das war so.“ Auf Nachfrage fiel dann auch die konkrete Antwort: „Rigaer Straße.“
Ein Protokoll der Sitzung gibt es noch nicht und es wird auch nicht öffentlich einsehbar werden. Den Dialog bestätigen aber auch der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion Hakan Taş und sein Kollege Niklas Schrader. Es sei das erste Mal, dass ein Polizei-Zeuge die beiden Ereignisse zusammenbringe, so Lux zur taz. Spekulationen über einen Zusammenhang gab es schon früher.
„Bis heute nicht klar“
Lux twitterte noch am Freitagabend: „Ein Zeuge bestätigt, der Attentäter vom Breitscheidplatz wurde ab dem 15. 6. 16 nicht mehr beobachtet. Priorität Nr. 1 des Staatsschutzes war die Rigaer94.“ Womöglich ist das eine Antwort auf die bis heute offene Frage, die auch Sonderermittler Bruno Jost nicht losließ, der im Oktober vergangenen Jahres seinen Abschlussbericht zu dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt mit zwölf Toten und mehr als 70 Verletzten vorgelegt hatte: Dazu, was zur Einstellung von Amris Observation führte, sagte Jost im November 2017 vor dem Untersuchungsausschuss: „Das ist mir bis heute nicht klar.“
Spätere Erklärungen, etwa von LKA-Chef Christian Steiof im Innenausschuss, Amris unislamische Verhaltensweisen wie etwa sein Drogenkonsum hätten zu einer Abwertung seiner Gefährlichkeitsprognose geführt, wies Jost bereits in seinem Bericht zurück: „Dafür ergeben sich indes aus den Akten keine Anhaltspunkte. Im Gegenteil.“ So sei noch am 30. Juni nach dem faktischen Ende der Observation in einem LKA-Vermerk notiert, dass zwei neue Kontakte Amris in die Salafistenszene „möglicherweise das ‚Gefahrenpotential des Beschuldigten Amri fördern‘ könnten“.
Benedikt Lux, Grüne
Ein plausiblerer Grund für die Einstellung der Observation sind dagegen Kapazitätsengpässe beim MEK. Steiof selbst sagte: „Amri war nicht der einzige Gefährder, den wir im Fokus hatten.“ Daher erfolge „eine Priorisierung“.
Womöglich gab es diese aber vor allem beim Einsatz Rigaer Straße. Klar ist: Dort war das MEK beteiligt. Wie viele Beamte der Mobilen Einsatzkommandos dabei waren, konnte die Polizei bis Redaktionsschluss nicht beantworten. Aus einer Kleinen Anfrage von Hakan Taş vom Juni 2016 geht hervor, dass am Tag der Räumung insgesamt 300 Beamte im Einsatz waren, „aus der örtlich zuständigen Direktion, von der Bereitschaftspolizei, den Abschnitten und dem LKA“.
Ein aktiver Polizeibeamter, dessen Name und Funktion der taz bekannt sind, sagt: „Ohne Voraufklärung der Observationsteams vom MEK könnte ein Einsatz wie in der Rigaer Sraße nicht stattfinden.“ Sie sei nötig, um das „Einsatzrisiko für die eingesetzten Beamten zu minimieren“. In der Rigaer Straße war es wiederholt zu Angriffen auf Beamte gekommen. Bei einer Räumung des linken Symbolprojektes musste mit militanter Gegenwehr gerechnet werden.
Der Einsatz gilt bis heute als Fehlschlag für die Polizei. Wie Gerichte später urteilten, erfolgte die Räumung der Kneipe ohne Rechtsgrundlage – ein Räumungstitel lag nicht vor. „Die Einsätze in der Rigaer waren nicht richtig, nicht notwendig und nicht legal“, sagt Taş.
Wahlkampftaktisches Manöver
Aus Polizeikreisen hat die taz nun erfahren: Mitte Juni 2016 waren mehrere Observationsteams vom MEK auf Islamisten angesetzt. Von einem auf den anderen Tag seien sie dann abgezogen worden – auch von der Beobachtung Amris. Von nun an hätte die Rigaer Straße Priorität, sei den MEK-Beamten über die Stabsstellen von der Innenbehörde vermittelt worden. „Wir müssen in der Rigaer Straße aufräumen, es geht auf die Wahlen zu“, lautet ein übermitteltes Zitat. Sollten sich diese Aussagen bestätigen, hätte die damals CDU-geführte Innenverwaltung die Observation islamistischer Gefährder einer illegalen Räumungsaktion geopfert. Innensenator Frank Henkel war CDU-Spitzenkandidat für die Abgeordnetenhauswahl im September 2016.
„Wenn sich das Umsteuern der Einsatzkräfte in dieser Dimension so erhärtet, ist das ein Skandal“, so Benedikt Lux. „Es zeigt, welche verheerenden Folgen es haben kann, wenn man ideologisch so verbohrt wie die Innenpolitik der CDU ist.“ Überrascht ist Lux dennoch nicht. Er sagt: „Henkel war an der linken Szene stark interessiert, an den Islamisten eher weniger. Das hat man schon am liegen gelassenen Verbot des Fussilet-Moscheevereins gesehen.“ Anis Amri gehörte zu den regelmäßigen Besuchern der Moschee in Moabit. Ein 2015 angestrebtes Verbot scheiterte angeblich an personellen Engpässen. Verboten wurde der Verein erst im Februar 2017 – nach dem Anschlag.
Henkels früherer Staatssekretär Bernd Krömer (CDU) äußerte sich vor dem Untersuchungsausschuss im November 2017 zu schon damals im Raum stehenden Verdächtigungen. Einen Zusammenhang der Einstellung der Observation Amris mit der Riager Straße habe es nicht gegeben, so Krämer damals: „Ich habe keinen Einfluss genommen auf die Vorgehensweise der Polizei.“ Auch eine Überlastung des MEK wegen der Rigaer stritt Krömer ab: „Das glaube ich nicht.“ Die jetzige Innenverwaltung unter Senator Andreas Geisel (SPD) wollte auf Anfrage politische Entscheidungen aus der Vergangenheit nicht kommentieren.
„Es muss überprüft werden, ob eine falsche Entscheidung getroffen wurde“, sagt Hakan Taş. Möglicherweise müssten der ehemalige Staatssekretär Krömer und die Staatsschutz-Chefin ein zweites Mal in den Ausschuss geladen werden. Ex-Innensenator Henkel, Ex-Polizeichef Klaus Kandt und LKA-Chef Steiof stehen schon jetzt auf der Liste. „Wir werden für Aufklärung sorgen“, sagte Taş.
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