Anhaltende Krise in Haiti: Wo Willkür und Gangs regieren
Ein Jahr nach dem Mord an Haitis Präsident Jovenel Moïse versinkt der Inselstaat in Gewalt und Chaos. Gangs haben die Kontrolle übernommen.
Doch der Direktor des haitianischen Menschenrechtsnetzwerks, Pierre Esperance, ist wie immer telefonisch in seinem Büro anzutreffen. Auf die Frage, ob das nicht zu gefährlich sei, sagt er nur: „Ich ändere mein Verhalten nicht.“ Seine Tochter habe er vor einigen Jahren außer Landes gebracht, weil es einen Entführungsversuch gab. Aber er und viele andere Menschenrechtler harren aus, veröffentlichen regelmäßig Berichte über den Stand der Ermittlungen im Mordfall Moïse und über die Gewalt krimineller Gangs, die in Haiti ein nie gekanntes Ausmaß angenommen hat.
Seit Juli vergangenen Jahres sitzen 18 kolumbianische Söldner wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung an der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse am 7. Juli 2021 in Haft. Bis heute, so Esperance, hätte keiner von ihnen einen Haftrichter gesehen. Ebenso erginge es den haitianischen Inhaftierten, die im Zusammenhang mit dem Mord festgenommen wurden.
Viele in Haiti glauben mittlerweile, dass der Mord nie aufgeklärt werden wird. Für Esperance ist klar, warum das so sein könnte: Laut einem Bericht seines Netzwerks reichten die Kontakte der Mörder und Hintermänner, darunter der nach wie vor flüchtige haitianisch-US-amerikanische Arzt Joseph Felix Badio aus Miami, bis in höchste Regierungskreise und zu Ministerpräsident Ariel Henry.
Bis heute ist der damalige Polizeichef Leon Charles nicht in Haft, sondern stattdessen Botschafter bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Charles trug die Oberaufsicht über die Präsidentengarde, die die Mörder ohne einen Schuss abzugeben in das Haus des Präsidenten in Pelerin oberhalb von Port au Prince hineinließ.
Gangs am Obersten Gerichtshof
Straflosigkeit war schon zuvor ein großes Problem in Haiti. Wem Strafe drohte, der ließ sich ins Parlament wählen und genoss vollständige Immunität. Vor wenigen Monaten wurde der oberste Gerichtshof durch eine bewaffnete Gang besetzt.
Gangs kontrollieren mittlerweile die Hälfte des Landes. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass es um die 300 davon gibt. Die Hauptstadt befindet sich an ihren wichtigsten Verbindungsstrecken in den Rest des Landes vollständig unter der Kontrolle zweier bewaffneter Gruppen: dem Gangzusammenschluss G9 unter dem ehemaligen Polizisten Jimmy Cherizier und der brutalen Mazowo 300.
Im April dieses Jahres lieferte sich Mazowo 300 mit einer anderen Gang einen verheerenden Kampf um Vorherrschaft, bei dem es hunderte Tote gab, darunter Frauen und Kinder. 18 Fälle von Vergewaltigung konnte das Menschenrechtsnetzwerk von Esperance feststellen. 17 der Frauen wurden danach exekutiert.
Premier Henry unter Verdacht
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, sprach in ihrem jüngsten Bericht davon, dass in Haiti die „bewaffnete Gewalt ein (…) unerträgliches Ausmaß angenommen hat“. Einer Studie des US-amerikanischen Instituts für Frieden – ein Thinktank, der sich an der offiziellen US-Politik orientiert – zufolge haben die Gangs enge Verbindungen in die Politik. Ihre Bewaffnung sei viel moderner als die der Polizei.
Die Regierung unter Ariel Henry hat wegen ihrer mutmaßlichen Verwicklung in den Präsidentenmord wenig Legitimität. Derzeit gibt es kein Parlament, die Parlamentswahlen sind lange überfällig. Henry stützt seine Legitimität allein auf die internationale Core-Group, die Gebergemeinschaft für Haiti unter US-Führung, die den Ministerpräsidenten im Juli letzten Jahres genehmigte.
Alle Bemühungen der Zivilgesellschaft, die sich im Montana-Accord zusammengeschlossen hat, stoßen bei der Core-Group auf wenig Interesse. Angesichts der Krisen Haitis bleibt die unverbrüchliche Unterstützung der internationalen Kräfte für Henry rätselhaft. Esperance hat wenig Hoffnung, dass sich daran etwas ändert: „Sie hören nicht auf die Haitianer“. Solange keine Lösung für die Gewalt gefunden werde, die Straflosigkeit ende und die Korruption bekämpft werde, könne von Menschenrechten in Haiti keine Rede sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland