: Angstschweiß im Seminar
■ Im Frühling hat die psychologische Beratungsstelle der Uni viel Zulauf
Im Frühjahr schleppen sich immer besonders viele Beladene die Treppen zur Psychologisch-Therapeutischen Beratungsstelle der Uni hoch. Selbst die mit den 25 Semestern auf dem Buckel kommen. Dann seufzt Ernst Weth, Leiter der Beratungsstelle, ein bißchen. Denn das sind die schwierigsten Fälle. „Die haben sich häufig schon richtig in eine Lebenslüge verstrickt, zum Beispiel den Angehörigen erzählt, daß sie bereits an der Doktorarbeit säßen. Und sich selbst machen sie seit Jahren vor, sie bräuchten nur noch drei Scheine, dann hätten sie das Studium fertig.“ Diese Studierenden in die Realität zurückzuholen sei ein sehr kränkender Prozeß, sagt der Diplom-Psychologe Weth.
Einfacher sind für die Uni-PsychologInnen die Leute mit Sprechangst oder Arbeitsschwierigkeiten. „Da geht es meist nur darum, sozusagen einen quersitzenden Stamm im Fluß wieder flottzukriegen“, sagt Ernst Weth. „Ich lese manchmal stundenlang in einem Buch und weiß hinterher überhaupt nicht, was ich da gelesen habe“ – dies Klagelied können StudentInnen schon fast im Chor singen. Mit jedem nicht eingehaltenen Plan steigt die Entmutigung weiter. Oberstes Ziel in einer Therapiegruppe ist also, überhaupt mal ein Erfolgserlebnis zu haben. Und sei es das, eine Stunde pro Tag zu arbeiten.
Auch die Sprechangst wird in Schrittchen überwunden. Schwierig schon, in einer Gruppe von 25 Leuten den Namen zu sagen. Fortgeschritten: den anderen erzählen, wieviel Angst man davor hat, in einer Gruppe zu sprechen. Übrigens werden auch Zögernde, die nur ein „Ich schaff das nicht“ rausbringen, mit Applaus belohnt.
Knapp fünf Prozent der Studierenden suchen irgendwann während ihres Studiums die Beratungsstelle auf – schätzungsweise 20 Prozent sind eigentlich behandlunsbedürftig. Doch schon jetzt müssen die Ratsuchenden rund drei Wochen auf einen Gesprächstermin warten. Sind die beklagten Arbeitsschwierigkeiten oder Depressionen nur ein Sympton für eine darunter liegende Neurtose, verweisen die fünf PsychologInnen weiter an niedergelassene TherapeutInnen.
Zugenommen hat in den zwanzig Jahren seit Gründung der Beratungsstelle vor allem die generelle Identitätsverunsicherung. Der Mangel an Berufsperspektive löst oft generelle Fragen nach dem Sinn des eigenen Daseins aus. „Die Studenten stellen sich aber auch darauf ein“, sagt Weth, „sie beschränken sich nicht mehr auf die Studentenrolle, immerhin haben 50 Prozent während des Semesters Jobs, sowas relativiert auch die Bedeutung des Studiums für die Identität“. Und seit wegen der Wohnungsnot immer mehr Studierende bei ihren Eltern wohnen bleiben, haben auch die Ablösungsprobleme zugenommen.
Von den Kontaktschwierigkeiten in der überfüllten Uni ganz zu schweigen. „Aber Kontaktsuche kann man organisieren“, heißt es in einem Ratgeber. Allerdings sollte man von der überhöhten Erwartung Abschied nehmen, einen „Partner oder eine Partnerin fürs Leben“ zu suchen. Stattdessen sollte man lieber erstmal eine Person suchen, mit der man gemeinsam joggen oder studieren oder Politik machen kann.
Die Verhaltenstherapie ist zwar nicht das Allheilmittel der Beratungsstelle, sorgt aber oft für erste schnelle Erfolgserlebnisse. Ein Schüchterner zum Beispiel plant mit seinem Therapeuten, künftig immer schon fünf Minuten vor Seminarbeginn da zu sein und sich dann ganz bewußt neben eine bestimmte Person zu setzen. Bislang nämlich kam er vor lauter Angst regelmäßig zehn Minuten zu spät und bekam dann höchsten ganz hinten noch ein Plätzchen.
Angstgeplagte Prüflinge bekommen von der Beratungsstelle den Tip, dem prüfenden Professor oder der Professorin erstmal zu erzählen, wie aufgeregt man ist. Die nehmen die Angst der Prüflinge nämlich durchaus wahr. Die verklemmte Situation entsteht erst dadurch, daß die Angst nicht angesprochen wird. Für die Prüfenden ist es umgekehrt auch Streß, einen schwitzenden Menschen mit panischem Gesicht zu prüfen. „Diese Strategie funktioniert immer“, versichert Ernst Weth. cis
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