: Angst schützt nicht vor dem Tod
ZUWANDERUNG (1): Auch wenn die SPD fürchtet, die Migrationspolitik könnte Thema im Wahlkampf werden: Man muss sie diskutieren. Schweigen nützt den Rechtsextremisten
Am 31. Oktober jährt sich zum vierzigsten Mal das Abkommen mit der Türkei zur Anwerbung von Gastarbeitern. In diesen vier Jahrzehnten wurde in der bundesdeutschen Politik penibel darauf geachtet, das Wort „Einwanderung“ nicht zu benutzen. Politiker aller Couleur (außer den Grünen, die frühzeitig Einwanderungskonzepte vorgelegt haben) pflegten die Lebenslüge: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Allerdings haben sich in diesem Zeitraum knapp 7,5 Millionen Einwanderer und ihre Nachkommen in unserem Land niedergelassen – und weitere werden kommen: Familienangehörige ziehen nach aufgrund Artikel 6 Grundgesetz und einer Vielzahl internationaler Verträge; Asylbewerber und politische Flüchtlinge berufen sich auf Artikel 16 a und die Genfer Flüchtlingskonvention; Spätaussiedler beziehen sich auf Artikel 116, EU-Staatsangehörige auf das Gemeinschaftsrecht.
Die Green-Card-Initiative hat kürzlich eine weitere Option eröffnet. Die „Kein Einwanderungsland“-Politiker sind nunmehr in der Realität angekommen, Bundesregierung und Parteien haben Kommissionen eingesetzt. Die in der Öffentlichkeit sehr aufgeschlossen geführte Diskussion leidet aber daran, dass die Politiker dem Wahlvolk die Abkehr von dieser Lebenslüge erklären müssen.
Am schwersten tut sich dabei die Union, insbesondere die CSU. Der liberale Ansatz der CDU („Müller-Kommission“) wurde auf Druck der CSU wieder zurückgenommen, das gemeinsam von Angela Merkel und Edmund Stoiber präsentierte CDU/CSU-Papier versucht krampfhaft, alte Positionen modern zu ummanteln („Steuerung der Zuwanderung unter Berücksichtigung der nationalen Interessen und der nationalen Identität“). Sie mussten eingestehen, dass weiterhin „Zuwanderung“ stattfindet, dass das Asylrecht und der Familiennachzug nicht einfach eingeschränkt werden können. Darüber hinaus soll der Zuzug von Fachkräften möglich sein. Die neue Verteidigungslinie heißt: „Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland.“
Einige Beispiele: Es wird vorgeschlagen, das Zuzugsalter für Kinder vom derzeit 16. auf das 10. Lebensjahr zu senken, da angeblich so die schulische Integration zu gewährleisten sei. Abgesehen davon, dass eine weitere Einschränkung des Zuzugsalters wohl rechtlich kaum machbar ist, ist die schulische Integration, wenn überhaupt, dann am wenigsten am Alter gescheitert, sondern vielmehr an der Konzeptionslosigkeit. Wie von uns seit langem vorgeschlagen, hat die Union das niederländische Modell der Integrationskurse übernommen. Doch wird den Zuwanderern mit Sanktionen gedroht, sollten sie das Angebot nicht annehmen, von der Kürzung von Transferleistungen bis hin zur Ausweisung. Letzteres wäre verfassungsrechtlich wohl kaum umsetzbar. Sie sollen auch an den Kurskosten beteiligt werden. Ohne den Begriff aufzunehmen, wird weiterhin die Anpassung der Zuwanderer an die deutsche Leitkultur verlangt. Das liest sich dann so: „Integration bedeutet deshalb mehr, als die deutsche Sprache zu beherrschen und unsere Rechtsordnung anzuerkennen.“
Trotzdem ist das Unionspapier ein Einwanderungskonzept, wenn auch ein sehr restriktives. Unsere Euphorie ist allerdings begrenzt. Die Einschätzung von SPD-Generalsekretär Müntefering – „eine gute Grundlage für eine komplexe Aufgabe“ – können wir nicht ohne weiteres teilen und neigen eher zum Urteil der Grünen, dass die Union sich von einem möglichen Konsens entfernt hat (Kerstin Müller).
Wenig beachtet wurden die Zuwanderungseckpunkte vom nordrhein-westfälischen Innenminister Behrens (SPD). Besonders begrüßenswert ist sein Ziel, die bisherigen „Abwehrreaktionen“ durch einen „politisch und gesellschaftlich gewollten Prozess“ zu ersetzen. Auch Behrens orientiert sich am niederländischen Modell, erwähnt aber im Gegensatz zu früher keine Sanktionen mehr. Sinnvoll ist sein Vorschlag, Migrantenorganisationen in die Integrationsarbeit einzubeziehen und finanziell zu fördern, sie an kommunalen Entscheidungen zu beteiligen sowie die Zahl der Beschäftigten nichtdeutscher Herkunft im öffentlichen Dienst zu erhöhen. Bemerkenswert ist auch seine Idee, Betrieben, die Jugendliche nichtdeutscher Herkunft ausbilden, finanzielle Anreize zu bieten, die Mehrsprachigkeit dieser Jugendlichen gezielt zu nutzen und besonders zu fördern.
Dennoch bleiben diese Vorschläge hinter den Forderungen des DGB zurück, die sich mit jenen der Türkischen Gemeinde in Deutschland weitgehend decken: Sie setzt sich für das uneingeschränkte Recht auf Familienzusammenführung und politisches Asyl ein. Die Anwerbung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ist jedoch nur akzeptabel, wenn alle Möglichkeiten im EU-Inland (und entsprechende Fortbildungsangebote) ausgeschöpft sind. Sie darf auch nicht dazu führen, dass die Unternehmen nicht mehr ausbilden. Werden aber ausländische Arbeitnehmer angeworben – dann mit ihren Familien und einer Bleibeoption. Die Kosten der Integrationsmaßnahmen sind den Betrieben aufzuerlegen.
Angelehnt an das niederländische Modell favorisiert die Türkische Gemeinde dreiteilige „Integrationskurse“: Sie sollten die Alltagsprache, gesellschaftliche und berufliche Orientierung umfassen. Die Teilnahme an den Kursen müsste durch Anreize gefördert werden wie sofortige Arbeits- und Gewerbeerlaubnis, schnellere Aufenthaltsverfestigung und kürzere Fristen für die Einbürgerung. Teilnahmezwang und Kostenbeteiligung sind inakzeptabel.
Einwanderung darf nicht länger als Sicherheits- und Wohlfahrtsaufgabe betrachtet werden. Daher muss sie aus den Innenministerien herausgelöst werden. Im Bund, in Ländern und Kommunen sollten die Zuständigkeiten für diese Querschnittsaufgabe gebündelt werden. An diesen neuen Einrichtungen „für Einwanderung und Integration“ müssen Migrantenorganisationen beteiligt sein; nach bestimmten Kriterien ausgewählt sollten sie als Vertreter der jeweiligen Bevölkerungsgruppen anerkannt, mit Kompetenzen und Mitentscheidungsmöglichkeiten ausgestattet und institutionell gefördert werden.
Die Einwanderungs- und Integrationsdiskussion hat in den letzten zwei Jahren eine Dynamik entwickelt, die eine Neuorientierung möglich erscheinen lässt. Trotz aller Gefahrenabwehr- und Nationalismusrhetorik sind auch die C-Parteien in Bewegung geraten. Noch ist aber kein Neuland erreicht. Auch in der SPD scheinen jene zu überwiegen, die sich nicht so ganz trauen. Die Angst, die Union könnte die Zuwanderung zu einem Wahlkampfthema machen, sitzt tief. Hier könnte der SPD, aber auch den Grünen ein türkisches Sprichwort weiterhelfen: „Korkunun ecele faydasi yok.“ (Angst schützt nicht vor dem Tod.) Die Zuwanderung kann und sollte nicht aus dem Wahlkampf herausgehalten, sondern möglichst offen und ohne Ängste zu schüren diskutiert werden. Alles andere nützt nur der Union und den Rechtsextremisten.
SAFTER CINAR
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