Angriff auf Odessa: Kathedrale beschossen
Bei Raketenangriffen auf die Hafenstadt Odessa wurden historische Gebäude und Kindergärten getroffen. Eine Rakete schlug im Hof unserer Autorin ein.
Fünf Tage in Folge beschießt die russische Armee die Millionenstadt Odessa bereits. Jede Nacht schlagen verschiedene Raketen und Kamikazedrohnen in der Stadt und der umliegenden Region ein. Dabei wurden Ferienresorts an der Küste, Wohnhäuser, Museen und Krankenhäuser zerstört. Die Einwohner berichten von den schlimmsten Angriffen auf die Stadt seit Kriegsbeginn im Februar 2022. In nur fünf Tagen wurden mehr als hundert Einrichtungen teilweise oder vollständig zerstört.
Viele Anwohner übernachten inzwischen in Fluren oder Kellern, denn sobald die Menschen sich schlafen legen, ertönen die Alarmsirenen und erneut beginnt der Beschuss durch die russische Armee. „Das Geräusch der Explosionen ist unglaublich beängstigend – ich renne sofort in Deckung. Bis jetzt hat unser Militär viele Geschosse abschießen können, aber einfach nur diesen Donner zu hören, macht mir schon Angst. Inzwischen habe ich Angst vor jedem Geräusch. Und meine Tochter hat deswegen angefangen zu stottern“, erzählt Olena aus Odessa.
In der Nacht zu Sonntag beschoss die russische Armee das historische Zentrum von Odessa. Seit vergangenem Januar wird diese Gegend offiziell als Unesco-Weltkulturerbe geführt – ein Meilenstein für die Stadt. Doch nun wurden Baudenkmäler und Gebäude von historischer Bedeutung zerstört. „Absichtlich waren die Raketen auf das Unesco-Gebäude im Stadtzentrum gerichtet! Die jahrelange harte Arbeit von großen Architekten wurde nun einfach von zynischen Perversen zerstört!“, betonte Oleg Kiper, Vorsitzender der Militärverwaltung von Odessa.
Architekturdenkmäler zerstört
Eine russische Rakete hat die berühmte Kathedrale der Heiligen Verklärung zerstört, die größte orthodoxe Kirche in der Stadt, die zur Ukrainisch-orthodoxen Kirche gehört und die bis Mai 2022 Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats hieß. In der Kathedrale wurde der Altar beschädigt, alle Fenster wurden herausgebrochen und die Fassade des Gebäudes stürzte ein. Einige der orthodoxen Ikonen konnten gerettet werden. Eine von ihnen ist die Ikone der Gottesmutter Kasperowskaja, die als Schutzpatronin der Stadt gilt. Erst nach einer umfassenden Untersuchung der Schäden werden Experten entscheiden, ob die Kathedrale restauriert werden kann. Errichtet wurde sie 1795, im Jahr 1936 zerstört und Anfang der 2000er Jahre an ihrem alten Platz wieder aufgebaut.
„Ein Priester war zum Zeitpunkt des Angriffs in der Kathedrale, aber es gelang ihm, sich zu verstecken. Die Hälfte der Kathedrale hat kein Dach mehr, die zentralen Säulen und das Fundament wurden zerstört. 1936 wurde diese Kathedrale von den Bolschewiken zerstört, die damals an der Macht waren. Und jetzt ist sie wieder zerstört“, sagte der Geistliche der Odessaer Diözese der ukrainisch-orthodoxen Kirche, der Archdiakon der Kathedrale Andrei Palchuk, vor Journalisten.
Odessa ist für seine Strände bekannt, die Touristen anziehen, und seine Bauten aus dem 19. Jahrhundert, darunter das Opernhaus.
Nach Angaben der Stadtverwaltung wurden durch den russischen Angriff am Sonntag insgesamt 25 der 196 Architekturdenkmäler der Stadt zerstört oder teilweise beschädigt. Auch das Haus der Wissenschaftler in Odessa (die Villa des Grafen Tolstoi) wurde schwer beschädigt. Das Gebäude wurde 1832 nach dem Entwurf des Architekten Karl Boffo erbaut. Sowjetische Filme wurden einst hier gedreht, zum Beispiel Szenen aus „D’Artagnan und die drei Musketiere“. Heute sind alle Säle des architektonischen Denkmals beschädigt oder zerstört, und viele Ausstellungsstücke sind vernichtet worden.
Nach Angaben der Direktorin der Bildungsabteilung von Odessa, Olena Buinevich, waren außerdem fünf Kindergärten, vier Schulen und zwei Förderzentren betroffen. „Die Lehrer sind seit der Nacht im Einsatz und tun alles, um die Arbeit wieder aufzunehmen. Aber zwei der beschädigten Schulen sind architektonische Denkmäler und haben sehr gelitten“, so Buinevich.
Hunderte von Einwohnern sind durch die jüngsten Raketenangriffe obdachlos geworden. Hunderte Autos und die Hafeninfrastruktur wurden beschädigt, Stromleitungen wurden durchtrennt. In den Straßen entstanden riesige Löcher mit einem Durchmesser von bis zu sechs Metern. Allein durch den Beschuss in der Nacht zuvor, von Samstag auf Sonntag, wurden mehr als vierzig Gebäude beschädigt. Nach Angaben des Luftwaffenkommandos der ukrainischen Streitkräfte setzte Moskau bei diesem Angriff neunzehn Raketen von fünf Typen ein. Zwanzig Menschen wurden verwundet, darunter vier Kinder. Ein junger Mann starb.
Eine der Raketen schlug im Hof der Autorin dieses Textes ein. Glücklicherweise hat das Wohnhaus standgehalten, sie und ihre Kinder sind in Sicherheit. In den benachbarten Häusern wurden die Fenster vom ersten bis zum sechzehnten Stockwerk herausgesprengt. Jetzt werden die Trümmer beseitigt und Tiere und persönliche Gegenstände unter dem Schutt gesucht. Die Nachbarn weinen.
Der EU-Chefdiplomat Josep Borrell bezeichnete den jüngsten russischen Angriff auf das historische Zentrum von Odessa als „Kriegsverbrechen“. „Russland hat bereits Hunderte von Kulturstätten beschädigt und versucht, die Ukraine zu zerstören. #Rechenschaftspflicht“, twitterte Borrell. „Raketen gegen friedliche Städte, gegen Wohnhäuser, gegen eine Kathedrale. Nichts kann das Böse Moskaus rechtfertigen. Und am Ende wird dieses Böse verlieren. Für Odessa wird es definitiv eine Antwort auf den russischen Raketenterror geben“, reagierte seinerseits der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.
Bei den andauernden Raketenangriffen auf Odessa waren außerdem mehrere Getreide- und Ölterminals des Hafens das Ziel. Laut dem Sprecher der ukrainischen Militärverwaltung wurden dadurch mindestens 60.000 Tonnen Getreide vernichtet. Der Auslöser der jüngsten Beschüsse war die Nichtverlängerung seitens Russlands des sogenannten Schwarzmeer-Getreideabkommens am Montag vor einer Woche, bei dem die UN und die Türkei zwischen Kyjiw und Moskau vermittelt hatten. Unterschrieben wurde der Getreidedeal im Juli 2022 und danach zweimal verlängert.
Aus dem Russischen: Gemma Terés Arilla
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?