■ Angemerkt: Moische von nebenan
Deutscher Herbst. Die Tage werden kürzer. Die Betroffenheits- und Ergriffenheitsreden zum 9. November, dem Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht, verwehen mit den letzten fallenden Blättern.
Unsere „jüdischen Mitbürger“ können wieder ruhig schlafen. Denn wir haben unsere Vergangenheit mit deutscher Gründlichkeit bewältigt: Zahllose Holocaust-Gedenkstätten wurden errichtet, Albert Einstein, Heinrich Heine und Therese Giehse prangten auf unseren Briefmarken, der Jugendaustausch mit Israel boomt, deutsche Touristen lassen sich von Licht und Sonne des Gelobten Landes verwöhnen, die Daheimgebliebenen saugen ihre Vitamine aus Jaffa-Orangen.
Alles paletti und Schalom? Grundsätzlich ja – wären da nicht ein paar braune Restposten in der vermeintlich brillanten deutschen Toleranz-Bilanz: Jeder fünfte Deutsche mag heute keinen Juden zum Nachbarn haben – daß wahrscheinlich ebenso viele Israelis ähnlich für Araber empfinden, macht nichts besser. Schon gar nicht, daß 40 Prozent der Deutschen meinen, die Juden verfügten wieder über „zuviel Einfluß“. Etwa die gleiche Zahl will nicht neben Schwarzen wohnen. 68 Prozent wünschen Zigeuner nach Honolulu oder sonst wohin – Hauptsache fort.
„Die Deutschen sind nicht ausländerfeindlich“, sagt Kanzler Kohl. Er selbst geht mit gutem Beispiel voran und angelt mit Indonesiens Diktator Suharto. Derweil Bundespräsident Herzog mit „ordentlichen“ Chinesen diniert und sie ermutigt, deutsche Produkte zu kaufen. So demonstrieren wir unsere Toleranz auf höchstem Niveau.
Nur einige Stufen tiefer jedoch, da, wo Deutsche mit Ausländern, Juden und Zigeunern – daß jene auch Deutsche sein könnten, kommt fast niemandem in den Sinn – Umgang haben, hapert es nicht nur gelegentlich.
Die Opfer zu betrauern, ist einfach. Mit den Lebenden auszukommen, ist viel schwieriger. Nicht jeder Jude ist ein weiser Nathan, nicht jeder Schwarze Martin Luther King und nicht jeder Zigeuner ein fidelnder Baron. Doch mit ihnen, mit den Moisches von nebenan, gilt es auszukommen. Sonst geraten die frommen Beteuerungen zum 9. November und anderen Gedenktagen zu schierer Heuchelei. Rafael Seligmann
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen