Andreas Speit Der rechte Rand: Wen Querdenker wählen wollen
Knapp 30 Zentimeter lang und etwa fünf Zentimeter hoch. Der rot-weiße Aufkleber fällt sofort auf. „Wann ist deine rote Linie überschritten?“, steht darauf. Eine Frage, die aus jedem politischen Lager kommen könnte, wäre da nicht ein Satz mit Kugelschreiber ergänzt worden: „Kinder müßen atmen“ (sic!). Der Sticker aus dem Milieu der Coronaskeptiker*innen klebte am Eingang einer Schule in der Hamburger Neustadt.
In den vergangenen Tagen untersagten mehrere Gerichte Aktionen und Demonstrationen der vermeintlichen „Querdenker“-Bewegung – auch im Norden. Trotzdem bleiben die Maskengegner*innen sichtbar, insbesondere in Räumen, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen. So kleben auch auf manchen Spielplätzen Aufkleber an Mülleimern oder Klettergeräten: „Impfzwang? Nein, Danke“ oder „Gib Gates keine Chance“. Vor Kindertagesstätten und Schulen gab es Guerillaaktionen gegen Maskenpflicht und Abstandsregeln. Über den Mailverteiler der Hamburger Schulbehörde wurden Schulleitungen zudem vor einer angeblichen Gefahr durch Mund-Nasen-Verdeckung gewarnt.
Das freie Atmen bewegt auch die Initiator*innen von „Wann ist deine rote Linie überschritten?“. Auf Instagram inszeniert sich ein Mann, der sich Jens nennt, mit diesem Slogan. Zur Person gibt er an: „Hamburg, aktiv in Natur und Politik, Querdenker, kreativ, positiv, Barefootrunning, Yoga and Fitness.“ Auf einem Foto posiert er auch mit einem der Szene-Promis aus Hamburg: Heiko Schöning von den „Ärzten für Aufklärung“. Die Aufnahmen legen nahe, dass die Hamburger Gruppe um „Jens“ an den größeren Demonstrationen in Berlin und Leipzig gegen die Coronamaßnahmen teilgenommen hat. Aber auch in Hamburg verkleben sie fleißig Sticker und Transparente.
Andreas Speitarbeitet als freier Journalist und Autor über die rechte Szene nicht nur in Norddeutschland.
Die Selbstdarstellung von „Jens“ bestätigt die Ergebnisse einer ersten Studie zu der „Querdenker“-Bewegung. An der Universität Basel haben Soziolog*innen um Oliver Nachtwey 1.150 Fragebögen ausgewertet, die sie an einschlägige Telegram-Gruppen versandt hatten. Die Studie ist nicht repräsentativ, zeigt aber Tendenzen: So sei das Durchschnittsalter 47 Jahre, 31 Prozent der befragten „Querdenker“ haben Abitur, 34 Prozent einen Studienabschuss und der Anteil Selbständiger ist höher als in der Gesamtbevölkerung. 41 Prozent der Befragten würden ihren „Gefühlen mehr als Institutionen und Experten“ vertrauen, Schulmedizin und alternative Heilmethoden sollten ihrer Meinung nach gleichbehandelt werden, typisch wäre zudem der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Körpers und das Verlangen nach spirituellem Denken. Bei der Bundestagswahl hätten 21 Prozent die Grünen, 17 Prozent die Linke und 14 Prozent die AfD gewählt. Bei der nächsten Bundestagswahl wollen jetzt 30 Prozent der AfD ihre Stimme geben.
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