: Anders leiden
Gaby Kaczmarczyk, Professorin an der Charité, über den kleinen Unterschied und großen Nachholbedarf
taz: Geschlechtsspezifische Krankheitsverläufe sind kaum erforscht. Woran liegt das?
Gaby Kaczmarczyk: Das fängt schon in der medizinischen Ausbildung an, wo Geschlechtsspezifitäten kaum beachtet werden. In den Lehrbüchern ist der Mensch in der Regel ein Mann, an dem sich alles ausrichtet. Ein Beispiel für diese Sicht war die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von 1997, ob die Primärversorgung bei Herzinfarkten von Männern und Frauen unterschiedlich sei – wir wissen übrigens, dass das so ist. Die Antwort lautete bezeichnenderweise, dass Frauen nicht die „typischen“ Infarktbeschwerden haben. Das Männliche wird als „typisch“ bewertet, obwohl mehr als die Hälfte der Bevölkerung Frauen sind.
Gibt es in Deutschland überhaupt klinische Tests, die auf Unterschiede zwischen Frauen und Männern abzielen?
Das ist kaum der Fall, es werden aber immer mehr Forderungen danach laut, denen der Gesetzgeber Rechnung tragen sollte. In den USA ist es längst üblich, die Analaysekategorie Geschlecht zu berücksichtigen – anders gibt es auch keine Finanzierung.
Inwiefern unterscheiden sich denn Krankheitsbilder von Frauen und Männern?
Das ist eine schwer zu beantwortende Frage, da es bisher nur eine Vielzahl von Hinweisen auf entsprechende Unterschiede gibt. Hier besteht ein großer Forschungsbedarf, um beiden Geschlechtern gerecht zu werden.
Welche geschlechtsstereotypen Zuordnungen gibt es bei der Diagnose?
Nach meiner Erfahrung neigt die Allgemeinmedizin dazu, bei Beschwerden von Männern organische Ursachen zu vermuten und erst in zweiter Linie zu berücksichtigen, dass ihre Beschwerden auch psychische Ursachen haben können. Bei Frauen ist es oft genau umgekehrt.
Sie stellen den Sinn von Vorsorgeuntersuchungen wie flächendeckenden Mammographie-Sreenings in Frage. Warum?
Vorsorgeuntersuchungen an sich sind nicht zu kritisieren – es gibt viele Erkrankungen, die, rechtzeitig erkannt, auch geheilt werden können. Ich denke nur, bevor man nun die Frauen zu tausenden vor die Mammographiegeräte stellt, muss erwiesen sein, dass dieses Screening-Programm wirklich etwas bringt. Und zu dieser Frage gibt es bisher ganz unterschiedliche Untersuchungsergebnisse, die in einem Forum am 2. Juni diskutiert werden sollen.
Forum „Keine Sorge mehr durch ‚Vor‘sorge? – Sinn und Unsinn des Mammographie-Screenings“, 2. 6., 14.30 Uhr, Charité
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