Andere Form von Tourismus in Marseille: Unsere Hood
Flanieren kann man woanders. In Marseille zeigen Mitglieder einer Kooperative bei Touren die Kultur und Natur in den rauen Vierteln der Stadt.
M arseille ist keine Stadt, in der es sich ruhig flanieren lässt; zu bergig, zu viel Müll, zu windig, zu wimmelig. Aber immer findet sich ein Plätzchen, um sich für einen Kaffee niederzulassen, eine Straße, die plötzlich den Blick aufs Meer oder die Berge freigibt.
Marseilles Innenleben ist rau, die Innenstadt hat dank jahrzehntelanger Misswirtschaft, Leerstand und Immobilienspekulation eine marode Bausubstanz. Als vor mehr als drei Jahren im Stadtteil Noailles drei Häuser einstürzten, starben acht Menschen. In jenem November 2018 lebten die „Wutmärsche“ wieder auf, die Menschen besannen sich auf eine andere Form des sich Bewegens durch die Stadt, und auf eine alte Form des Protests, die in Marseille Tradition hat: das Marschieren.
Im Französischen bewahrt das Wort marcher einerseits das eher militaristische Marschieren des Soldatenbataillons, das 1792 von Marseille nach Paris zog und das Lied der Revolution, La Marseillaise, durchs Land trug, heute die Nationalhymne. Das Marschieren taucht auch bei der von Präsident Emmanuel Macron gegründeten Bewegung „La République en marche“ auf, die vorgab, etwas in Bewegung setzen zu wollen. Es meint aber auch schlicht: laufen, gehen, und mit „Les Excursionistes“, 1897 gegründet, besitzt Marseille den ältesten Wanderklub Frankreichs.
1983 waren es dann die Beurs, die zweite Generation der Immigranten aus dem Maghreb, die in Marseille den „Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus“ initiierten. Viele kamen aus dem Norden Marseilles, wo in den 1960er Jahren Hochhaussiedlungen für die Arbeitskräfte aus den Ex-Kolonien entstanden waren.
Die Quartiers nord
Heute sind Cités wie La Castellane, Le Castellas oder Les Aygalades Hochburgen des Drogenhandels. Die Quartiers nord sind abgehängt, abgewertet und durch falsche Stadtplanung und fehlende Verkehrsanbindungen abgestraft. Doch wer meint, in den Norden Marseilles könne man keinen Fuß setzen, der irrt.
2011 gründete sich die Kooperative Hôtel du Nord. Dahinter steht die Idee, das kulturelle und historische Erbe der Quartiers nord zu vermitteln. Denn im 13., 14., 15. und 16. Arrondissement gibt es nicht nur die Cités mit all ihren sozialen und ökonomischen Problemen, sondern auch Einsprengsel alter Fischerdörfer, kleinbürgerliche Wohngegenden, Handwerkerviertel, Siedlungshäuser, Industrieruinen und -brachen.
Der Kooperative geht es um eine Wiederaneignung des Territoriums, der eigenen Geschichte – und darum, den dort lebenden Menschen eine Stimme zu geben. Die Mitglieder organisieren thematische Führungen, vertreiben lokale Produkte wie Seife oder Honig. „Wir sind weder ein Hotel noch ein Museum“, versucht Julie de Muer, eine der Gründerinnen, den Charakter der Kooperative zu erklären. Doch auch wer nur eine Übernachtungsmöglichkeit sucht, wird auf ihrer Webseite fündig.
Julie de Muer sitzt an einem Märzabend in der Küche ihrer Mutter im Viertel L’Estaque, einem von italienischen Einwanderern geprägten Vorort am Meer im Norden Marseilles. In L’Estaque mietete sich Ende des 19. Jahrhunderts der Maler Paul Cézanne ein, als es noch ein Fischerdorf war, hier entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts viele Ziegeleien und nach dem Krieg zog ein petrochemisches Werk die ganze Gegend in Mitleidenschaft. In Verduron, rund einhundert Meter den Hang hoch, wurden um die Jahrtausendwende bei Ausgrabungsarbeiten Überreste eines auf einem Felsvorsprung erbauten gallischen Dorfes gefunden.
Teilhabe und Austausch
Die Gallier waren bekanntlich schlau: Von hier aus hat man einen großartigen Blick auf den Hafen Marseilles, die zurückgekehrten Kreuzfahrtschiffe, die Hochhausriegel der Cités, die im Dunstschleier sich erhebenden Berge über dem Meer.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Im Jahr 2013 wurde Marseille Europäische Kulturhauptstadt. Damals flossen Mittel in kulturelle Großprojekte wie das Mucem, das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers, das in das alte Fort Saint-Jean am Hafen hineingebaut wurde; das Viertel Panier wurde aufgehübscht.
Damals entstand auch der GR 2013, ein Fernwander- oder Rundweg, der durch Marseille und zahlreiche Kommunen der Provence führt. Er verbindet Stadt und Land, Beton und Natur, Meer, Hafen und Industrieruinen, Bäche, Müllhalden und Kiesgruben.
„Ohne die Planungen für die Kulturhauptstadt wäre alles nicht so schnell in Gang gekommen“, sagt Julie de Muer. „Das gab uns die Möglichkeit, unser Konzept an den Tourismus zu koppeln.“ Die Touren, die Hôtel du Nord organisiert, finden sich wie die Bureau de Guides für den GR 2013 auf der offiziellen Tourismusseite von Marseille wieder, manche werden auf Englisch angeboten.
Marschieren, gehen, laufen, die eigene Umgebung erkunden, sich die Geschichte wieder aneignen: Darum geht es Hôtel du Nord, aber auch den assoziierten Künstlerkollektiven, Stadtteilgruppen, die es leid waren, dass ihnen ihre Stadt schlicht nicht gehört. Sie erobern sie sich zurück, erkunden sie Meter für Meter, Stein für Stein. Und wer von auswärts zu Besuch ist, darf mit ihnen mit – laufen, marschieren. Ein touristisches Konzept, das auf Teilhabe, auf Austausch und nicht auf Konsum oder Einseitigkeit beruht. Und das Schöne ist: Sie machen es für sich.
Die „Künstler-Wanderer“
An einem sonnigen Samstagmorgen Ende März treffen sich etwa 25 Menschen auf dem Gelände einer ehemaligen Seifenfabrik, die heute der freien Szene Ateliers und Probestätten bietet. Auch Projekte mit den Kids aus der nahen Cité Les Aygalades finden hier statt, ein auf die Seite gekippter Bus ragt als Monument in die Luft.
Stéphane Brisset und Dalila Ladjal vom Künstlerkollektiv Safi gehören zu „Artistes-Marcheurs“, den „Künstler-Wanderern“, die den Rundweg des GR 2013 mitkonzipiert haben. Sie begrüßen die Gruppe, zu der an diesem Tag mehr Einheimische als Auswärtige zählen. Sie erweitern das Konzept des Laufens um die Dimensionen: schmecken, hören, riechen, forschen. Jeder bekommt ein Heftchen in die Hand gedrückt, in dem man während der Exkursion Blüten und Pollen sammeln kann.
Pollen verbinden Pflanzen- und Tierwelt, und die Exkursion verbindet das Schöne mit dem Nützlichen: Im Rahmen des von der EU geförderten Life-Programms wird die Gruppe ein ausgewiesenes Biosphärengebiet ablaufen, seine Bodenbeschaffenheit und Pflanzenvielfalt prüfen. Stéphane Brisset breitet auf dem Boden eine Karte aus, in die er Notizen eintragen kann. Sein Handwerkszeug trägt er in einem hölzernen Koffer auf dem Rücken.
Die heutige Tour führt durch felsiges Terrain an einem Wasserfall des Flusses Aygalades vorbei zum Kanal von Marseille, der die Stadt mit Trinkwasser versorgt. Als er im 19. Jahrhundert angelegt wurde, überließ man den Fluss der Industrie mit ihren Abfällen und Giften. Erst seitdem die industrielle Produktion eingestellt oder verlagert worden ist, erobert sich die Natur Terrain zurück. „In Paris spürt man den Bezug zur Natur nicht“, erzählt Dalila Djabal im Gehen. Das sei in Marseille anders. Hier seien Wind, Wasser, Berge und sich wild aussäende Pflanzen stets präsent.
Was man auf der Tour durch den Norden noch entdeckt: eine Gartenlaubenkolonie der ehemaligen Eisenbahner, einen Steinbruch, Heidelandschaft, einen Bürgerpark gegenüber der Cité Les Aygalades, Ende März grün und nicht sonnengebleicht.
Die Cité liegt scheintot da. Die soziale Distanz zu überbrücken, wird nicht einfach sein. Wo die Schulen schlecht ausgestattet sind, Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität den Alltag bestimmen, steht den meisten nicht der Sinn nach Exkursionen, Spaziergängen. Doch wenn es darum geht, die Umgebung zu verschönern, Flächen oder Ecken zu säubern, dann beteiligen sich auch Bewohner:innen der Cités.
Seit sie bei Hôtel du Nord aktiv sei, habe sie ein sozial viel gemischteres Umfeld, sagt Julie de Muer, und man glaubt ihr, dass sie es als Gewinn empfindet. „Früher dachten wir, man muss in die Cités hineingehen, um etwas zu bewirken. Aber es hat sich gezeigt, dass es viel besser ist, wenn die Bewohner:innen herauskommen und sich den Zwängen des Lebens in der Cité entziehen können.“ Oft sind es Frauen und Kinder.
Das Laufen ist eine Kulturtechnik der Armen, schreibt die einstige Stadtkonservatorin Christine Breton, die daraus eine Soziologie des Spaziergangs, das Konzept der Gastfreundschaft und der „Geschichtenfabrik“ entwickelt hat, Ideen, die bei Hôtel du Nord eingeflossen sind. Kulturerbe als lebendige Geschichte, als Wechselbeziehung zwischen den Menschen, die dort leben, und denen, die zu Besuch kommen.
Hôtel du Nord hat die Faro-Konvention des Europarats unterzeichnet, die jedem das Recht zuspricht, am Kultur- und Naturerbe teilzuhaben und es auf seine Weise zu erforschen. Dann ist nicht mehr nur die Frage: Wem gehört die Stadt? Sondern: Wer läuft mit?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr