Analyse: Netanjahu marschiert
■ Israels Ministerpräsident und das Gedenken an den Holocaust
Am Vorabend des Ha-Shoa, wie der Holocaust-Gedenktag auf hebräisch heißt, zeigte das israelische Fernsehen auf Kanal 2 zum ersten Mal „Schindlers Liste“. Der Film verzeichnete eine Einschaltquote von fast 50 Prozent – die höchste, die je eine Sendung im israelischen Fernsehen erzielte. „Schindlers Liste“ dreht sich bekanntlich um die Rettung von Juden im Holocaust. Zufall oder nicht? Im 50. Jahr der Staatsgründung gilt das Augenmerk der israelischen Öffentlichkeit den Überlebenden des Holocaust.
Nicht daß der Opfer nicht in angemessener und würdiger Weise gedacht worden wäre. Aber zum ersten Mal räumte ein israelischer Ministerpräsident ein, daß Israel lange Jahre dem Leiden und der Widerstandskraft der Holocaust-Überlebenden wenig, ja zu wenig Anerkennung gezollt habe. „Wir, die hier Geborenen oder Alteingesessenen, haben die Größe ihrer Leiden nicht immer verstanden und das Ausmaß ihres Heroismus, das ihnen nach ihrer Ankunft in Israel abverlangt wurde, nicht immer gewürdigt“, sagte Netanjahu. Und in einem Kommentar für die gestrige Ausgabe der Jerusalem Post war es ein Sabra (im Land Geborener), und zwar ausgerechnet der Hardliner und Ex-General Ariel Sharon, heute Infrastrukturminister, der diesem Empfinden anschaulich Ausdruck verlieh. Er erinnerte an jene Holocaust- Überlebenden, die, kaum nach Israel gekommen, ins Militär gesteckt wurden, um zu kämpfen. Sie „kamen als Unbekannte“, erinnert Sharon. „Sie kämpften als Unbekannte, fielen als Unbekannte, und viele von ihnen sind bis auf den heutigen Tag anonym geblieben.“
Im Gefühl dieser auch selbst erzeugten Stimmung setzte sich Netanjahu als erster Ministerpräsident an die Spitze des diesjährigen „Marsches der Lebenden“ vom Konzentrationslager Auschwitz ins Vernichtungslager Birkenau. Und er sprach jene markigen Worte, die für viele Israelis richtig, ja alltäglich klingen mögen: „Die Existenz des jüdischen Volkes ist verknüpft mit jüdischer Souveränität und einer jüdischen Armee, die auf der Stärke des jüdischen Glaubens basiert.“ Und doch haftet diesen Worten der Geruch der politischen Instrumentalisierung des Holocaust an. Und das ungute Gefühl wird zum Verdacht, wenn man die Verweigerungshaltung Netanjahus im Friedensprozeß hinzudenkt. „Bei der Gründung des Staates Israel ging es um eine Wiederherstellung der Souveränität und der Sicherheit“, fügte Netanjahu gestern nochmals hinzu und rief die 4.000 polnischen Juden auf, nach Israel zu emigrieren. Netanjahu sagte nicht, daß es 1948 auch um die Flucht und die Vertreibung von 700.000 Palästinensern ging, denen die Rückkehr in das „Land ihrer Väter“ bis auf den heutigen Tag verwehrt ist. Georg Baltissen
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