Analyse zum Volksgesetzgebungsurteil: Wider die Diktatur der Querulanten
Das Urteil des Verfassungsgerichts ist eine Niederlage für den Verein „Mehr Demokratie“, aber es ist ein Sieg für mehr Demokratie in Hamburg.
E ine Niederlage kann ein Sieg sein. Dass der Bürgerrechtsverein „Mehr Demokratie“ am Donnerstag vom Hamburgischen Landesverfassungsgericht in die Schranken gewiesen wurde, ermöglicht mehr Demokratie im Stadtstaat an der Elbe. Gestärkt wurde die direkte Demokratie der Volksgesetzgebung und damit die Möglichkeiten der Bevölkerung, in Einzelfragen Regierung und Parlament zu überstimmen. Verhindert wurde eine Diktatur der Querulanten.
„Mehr Demokratie“ hatte mit seinem nun als nicht verfassungskonform untersagten Volksbegehren „Rettet den Volksentscheid“ den Bogen eindeutig überspannt. Da Volksentscheide in Hamburg nicht bedroht seien, müssten sie auch nicht gerettet werden, lautet der Tenor des Urteils, das auch Signalwirkung auf andere Bundesländer haben wird. Die verfassungsrechtlichen Leitplanken, die das höchste Gericht der Hansestadt aufgestellt hat, werden nicht nur in Sachen eines „Referendums von oben“, der Befragung des Volkes in einer Sachfrage durch Parlament und Regierung, zu Diskussionen über seine Einführung in den Ländern führen, die dieses Instrument noch nicht kennen.
Denn für Hamburg wurde klar gestellt, dass die Volksbefragung, erstmals 2015 zur Frage der Hamburger Olympia-Bewerbung – und im übrigen zeitgleich im potenziellen Segelort Kiel, dort aber auf kommunaler Ebene – durchgeführt, die Rechte des Volkes nicht schmälert. Wie sollte auch die Bitte „der da oben“ an „die da unten“, in einer wichtigen Sachfrage selbst zu entscheiden, eine Beschränkung der Mitwirkungsrechte des Volkes sein? Eben das aber hatte „Mehr Demokratie“ behauptet. Jemanden aber dadurch zu unterdrücken, dass man ihm das letzte Wort lässt – so eine Argumentation taugt für einen Spitzenplatz in der Rangliste der gewagten Thesen.
Nein, die Galionsfiguren von „Mehr Demokratie“ in Hamburg, allen voran ihr Oberhäuptling Manfred Brandt, haben sich verrannt, getrieben von einem fast schon pathologischen Verfolgungswahn, der sie hinter nahezu jeder Äußerung eines gewählten Volksvertreters einen Anschlag auf „das Volk“ wähnen lässt. Dessen Überhöhung indes ist am deutlichsten erkennbar in der geforderten Absenkung von Beteiligungs- und Zustimmungsquoren.
Wie soll es zu mehr Demokratie führen, wenn rund 13 Prozent der Wahlberechtigten ausreichen sollen, um Gesetze zu beschließen? Wie soll es zu mehr Demokratie führen, wenn klare Minderheiten der Mehrheit ihren Willen aufdrücken können? Minderheiten müssen Mehrheiten suchen oder Kompromisse eingehen, die durch den Ausgleich widerstreitender Interessen gebildet werden, stellt das Verfassungsgericht klar. Das mag wenig spannend klingen, ist aber der Alternative vorzuziehen: Konfrontation bis zur gnadenlosen Zuspitzung, wie sie beim abgewendeten Volksentscheid über die Flüchtlingsunterbringung erfolgt wäre, mit Siegern und Besiegten.
Eine solche Polarisierung auf niedrigem Beteiligungsniveau würde eben nicht für mehr Demokratie sorgen, weil sie die Spaltung der Gesellschaft beförderte, statt sie zu lindern. In der Tendenz könnten wortmächtige und gut organisierte Gruppen ihr Partikularinteresse ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzen. Es wäre der Triumph der durch Interessen gespalteten Gesellschaft, in der sich in letzter Konsequenz verfeindete Clans Dauerfehden liefern: Was die eine Minderheit heute durchsetzt, könnte die andere Minderheit morgen wieder ändern.
Es ist schuldhaftes Verhalten von „Mehr Demokratie“, mit dem versuchten Einreißen von Hürden faktisch für weniger Demokratie zu sorgen. Damit erreicht der – gemeinnützige und somit dem allgemeinen Nutzen verpflichtete – Verein das Gegenteil dessen, was er angeblich erreichen will. Durch eine permanente Misstrauenserklärung an die Politik und die Politiker, an die Parteien und Parlamente schürt „Mehr Demokratie“ eben die Politik(er)verdrossenheit, zu deren Bekämpfung der Verein einst angetreten ist. Manfred Brandt und seine Leute müssen sich der Frage stellen, ob sie auf ihrem heiligen Kreuzzug für eine vermeintlich echte Volksdemokratie nicht vollkommen den Kompass verloren haben.
Diesen Irrweg hat das Hamburgische Verfassungsgericht gestoppt. Zugleich hat es damit die bestehenden Instrumente der Volksgesetzgebung mit ihren Vorgaben und Quoren bestätigt und gestärkt. Bisher sind noch bei jedem Volksentscheid in der Hansestadt – ob „von unten“ oder „von oben“ initiiert – Regierung und Parlamentsmehrheit vom Volk in ihre Schranken gewiesen worden. So kann es auch beim nächsten Mal kommen, denn das Recht des Volkes, die parlamentarische Demokratie zu ergänzen oder zu korrigieren, wurde und wird nicht angetastet.
Das Urteil des höchsten Hamburger Gerichts ist eine Niederlage für den Verein „Mehr Demokratie“ in seinem aktuellen und bedauernswerten Aggregatzustand. Und ist deshalb ein Sieg für mehr Demokratie.
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