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„An keinen kopierten Mist mehr denken“

Heute geht an den Universitäten das Sommersemester zu Ende – und für manche Studenten ihr Studium. Die letzten Prüfungen laufen, die letzten Klausuren werden geschrieben – und mancher macht seine Abrechnung. Ein tiefer Stoßseufzer  ■ Von Frank Rothe

Verdammt noch mal, bald ist es vorbei. 26 minus 6 macht 20 Jahre auf der Schulbank. 20 verdammte Jahre zuhören, etwas sagen, wenn gefragt wird. Sich hineindenken in die Gehirnwindungen der Lehrer und Dozenten, sie verstehen, damit sie mich auch verstehen. Noch 48 Stunden, dann ist es aus. Dann ist auch die letzte Prüfung vorbei, das letzte Auswendiglernen, das letzte Dahinplappern von dem, was sie hören wollen. Und was sich allzuselten mit dem deckte, was mich wirklich interessiert hätte.

Was soll ich wohl später mit meinem Wissen über Grigorij Alexandrows Komödien anfangen? Soll ich einem meiner Kumpels damit ein Ohr abkauen oder mich in wissenschaftliche Untersuchungen stürzen, ob ich noch einen Ururenkel von Alexandrow finde? Der vielleicht noch was ganz Tolles über seinen Ahnen zu sagen hat. Oder ein Foto von ihm hat, das noch nicht veröffentlicht ist, ein echtes Haarteil oder sein Gebiß? Was interessiert die Welt Alexandrows Gebiß? Nichts? Sicher findet sich einer, der eine Theorie parat hat, wie man von der Gebißstruktur auf den Intelligenzquotienten schließen könnte. Genauso wie sich sicher jemand finden ließe, der aus dem umgestürzten Kaffeesatz das Datum für den Sommerschlußverkauf herauslesen kann.

Ich will nichts mehr wissen von Alexandrows Komödien und dem Drumherum, der Definition von Komödie, der Definition von Sozialismus, der Definition von Film, vielleicht noch der chemischen Zusammensetzung von Zelluloid. Keinen Bock. Noch 48 Stunden, dann schwitze ich zum letzten Mal, dann fahre ich zum letzten Mal meinen Adrenalinspiegel hoch für die letzte Prüfung. Spule mein Teilwissen über die 30er Jahre ab, bette Alexandrows musikalische Komödien dazwischen, packe ein Stückchen Stalinismus dazu, würze es mit einer Prise Formalismus, denke mir irgendeine bekloppte These aus, widerlege oder belege sie und lasse die Subjektivität des Lehrkörpers entscheiden: „Ja, ihre Theorie sollten Sie noch einmal überdenken. Haben Sie etwa nicht diesen Aufsatz gelesen, den auch ich gelesen habe? In dieser und jener Zeitschrift finden sich eine Menge neuartiger Anhaltspunkte und interessanter Aspekte.“

Ich werde nicken und so tun, als wenn ich mich ganz klein fühle, allzeit bereit bin für jede Art von Belehrung und großes Interesse habe an dem Gedankengut des Lehrkörpers. Und sie werden es kaufen. Sich groß fühlen und überlegen und ungeschlagen für alle Ewigkeit. Doch auch die geht einmal zu Ende.

Es tut mir leid. Es ist zu spät.

Ich werde diese Aufsätze nicht mehr heraussuchen und kopieren an diesen Geräten mit Copycard und dem ganzen Schnullifax und dem ganzen Drumherum. Ich lese jetzt nur noch das, was mich interessiert, und keinen anderen Scheiß. Es ist vorbei. Das müßte man denen einfach mal so glatt ins Gesicht knallen – nach der Prüfung. Sie hätten es verdient.

Sie, die oft nicht besser sind, spezialisiert auf Spezialgebiete, spezialisiert auf spezielle Theorien, spezialisiert auf ihre ganz spezielle Weltanschaung, Ausdrucks- und Herangehensweise. Sie mit ihrem vermeintlichen Niveau, mit ihren eingefahrenen Methoden, die sich auf Wiederholung stützen und auf Langsamkeit bedacht sind. Denn Schnelligkeit ist ein Unwort im universitären Ablauf. Wer schnell ist, macht sich strafbar. Tempo kann nicht mit Qualität einhergehen: Sei langsam. Nimm dir Zeit. Nimm dir die Wochen, die Monate, das Semester und das nächste gleich dazu.

Ich werde also Alexandrow runterspulen. Wenn der wüßte, was er mir für Sorgen bereitet. Aber Alexandrow ist tot.

Im zweiten Teil der Prüfung werde ich einen gesellschaftstheoretischen Aufsatz von Dieter Senghaas auseinandernehmen, die kritischen Aufsätze seiner Kollegen zu diesem Aufsatz und wiederum Senghaas Folgeaufsatz zu den Kritiken seiner Kollegen. Das ist sehr theoretisch, und es geht um die Sozialismusdebatte und so hin und so her und so weiter und so fort.

Da schreibt der Dieter 1990 einen Aufsatz in der Zeitschrift Leviathan über seine Ansichten zum Untergang des Ostblocks und daß er es schon längst geahnt hatte und teilt dem Leser obendrein seine Freude darüber mit, daß es bald schon einen einheitlichen liberalen Rechtsraum bis zum Ural geben könnte mit der freien Entfaltung des Bürgers oder irgendwie so was. Und seine Kollegen schimpfen ihn aus auf vielen Seiten Papier, daß er seine Ideale aufgegeben hätte und dem kapitalistischen Modell kritiklos gegenüber stehen würde. Ein paar Leviathan-Ausgaben später holt dann der Dieter erneut aus und schimpft auf seine Kollegen, die seine Thesen nicht verstanden hätten. Warum tut er das? Und wieso hat er nicht einfach zum Telefonhörer gegriffen und so seine Ansicht mitgeteilt, ohne andere damit zu nerven? Nein. Der Dieter hat lieber alles aufgeschrieben, und ich muß es jetzt lesen. Es ist trocken, es ist uninteressant, und es liest sich schlecht.

Ich werde also auch Dieters Thesen noch einmal vertreten, meine ganz spontan dazwischenmischen und ein Fazit ziehen. Was für eins, weiß ich noch nicht.

Danach gehe ich raus aus diesem muffigen Zimmer, warte, während der Lehrkörper berät, durch- und nachdenkt und entscheidet. Ich werde draußen vor der Tür stehen, während drinnen entschieden wird. Vielleicht stecke ich mir ein Aufnahmegerät in die Jackentasche und lasse die Jacke im Prüfungsraum hängen.

Vielleicht sitzen sie ja nur da und sagen so etwas wie: „Na, was denkst du? Geben wir ihm eine Drei, oder war er besser?“ „Na, ich weiß nicht. Die Diskussion über Senghaas' Sozialismusverständnis war irgendwie schlaff. Nicht enthusiastisch genug. Aber was er über Alexandrows Komödien gesagt, war nicht schlecht. Habe ich so noch gar nicht gesehen. Geben wir ihm ruhig eine Drei.“

Danach hole ich mir diese verdammte letzte Zensur meines universitären Lebens ab. Nichts mehr werde ich diskutieren, gar nichts mehr. Vielleicht werde ich lächeln. Vielleicht werde ich die Tür knallen. Sie werden mich sicher fragen, was ich denn nun mit meinem Leben anfangen werde. Ob ich einen Job habe oder so etwas. Sicher denken sie, daß ich jetzt in ein tiefes Loch falle, so ganz ohne Uni.

Vielleicht werde ich ihnen sagen, daß ich Professor werden möchte und eine ganz steile Karriere zu machen gedenke, an ihrer Universität. Vielleicht kriegen sie dann ja Schiß und denken, hätten wir ihm doch lieber eine Vier gegeben.

Aber ehrlich gesagt ist es mir schnurzpiepe. Das Abschlußzeugnis hänge ich mir aufs Klo.

Und dann vergesse ich diese Universität so schnell, wie es irgendwie nur geht. Raus aus dem Kasten. Der Tag X wartet, es wird vorbei sein, und was übrigbleibt, ist ein Stück Papier, weiß mit einer Zahl drauf, mit meinen Fächern und mit einem Stempel.

Dafür bin ich nun durch die Tretmühlen des Weberschen Bürokratieapparats gelatscht, habe Referate gehalten, denen kaum einer zuhörte, habe Dozenten zugehört, die kaum je mit der Praxis in Berührung gekommen zu sein schienen. Ich habe mich eingelassen, es ging ja auch nicht anders. Wenn ich von vorn beginnen würde, ich würde es nicht noch einmal tun. Ich würde es nie wieder tun. Jetzt bin ich Magister mit einem Wissen, das nicht größer ist als ein Kirschkern im Weltall.

Trotzdem werde ich glücklich sein, werde mich besaufen, werde meine Oma anrufen und mich von denen feiern lassen, die noch in der Tretmühle strampeln.

Und dann werde ich verdammt noch mal arbeiten und verdammt noch mal meine Wochenenden genießen. Ich werde mir im Tierpark Elefanten anschauen und an keinen kopierten Mist denken, der zu Hause auf dem Schreibtisch liegt und auf den Textmarker wartet. Ich werde nicht mehr mit der U-Bahn Richtung Dahlem fahren, um nach einer Stunde Fahrt festzustellen, daß das Seminar verschoben wurde, und nach einer weiteren Stunde Fahrt wieder zu Hause ankommen.

Ich werde keine Buchbestellungen mehr aufgeben von irgendwelchen Standardwerken, die es dann nicht gibt, weil sie eben Standardwerke sind, die von mehr als nur einem Studenten benötigt werden. Ich werde keine Ordner mehr kaufen, um meine Semester in ihnen abzuheften. Ich werde auch nicht mehr in der Mensa stehen und zwischen Tofu-Eintopf und Rindsroulade entscheiden müssen. Nein. Nein. Nein. Ich werde selbst kochen. Und keiner kann mir mehr sagen, du bist Student, du hast Zeit, dir muß es ja gutgehen.

Der Tag X wird großartig sein. Das Ziel ist nah. Es ist der Endspurt, das Ende vom Ende. Jetzt kann nichts mehr kommen. Doktor will ich nicht werden. Und an der Uni will ich nicht bleiben, nicht im Traum und auch nicht für Geld.

Es ist verdammt noch mal vorbei. Das Leben beginnt.

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