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An einer Grenze

Mit seinen gravitätischen Bewegungen ist das japanische No-Theater sowohl göttlichen als auch fleischlichen Ursprungs  ■ Von Olaf Möller

No – gleich „Fertigkeit, Könnerschaft“, gesprochen mit einem gedehnten O-Laut, weshalb man den Namen dieser Theaterform oft auch entweder mit einem h hinten oder, in älteren deutschen Werken über Japan, mit einem zweiten o geschrieben findet. No war vielleicht der für die Entwicklung moderner westlicher Darstellungsformen wichtigste außer- eigenkulturelle Einfluss: Peter Brook im Theater, Sergej Eisenstein im Kino, Robert Wilson, aber auch Benjamin Britten in der Oper.... Zumindest ein Klischee von No: rituell!, stilisiert!, meditativ! Was zwar alles irgendwie stimmt, die weltweit älteste noch regelmäßig professionell praktizierte Theaterform, die am kommenden Wochenende erstmals in Hamburg vom Tokioter Ensemble Umewaka Kennôkai vorgestellt wird, jedoch auf nur ungenau beobachtete Äußerlichkeiten reduziert.

Will man gewissen japanischen Legenden glauben, dann ist No wahrhaft göttlichen Ursprungs. Mit ein bisschen gutem Willen lässt sich seine Herkunft bis zurück zur Gründerin Japans, der Sonnengöttin Amatersu verfolgen. Weniger exzentrische, auf jeden Fall weniger hardcore-yamatodashieske, und zumindest historisch auch ein wenig belegbare Interpretationen der Genese dieser Theaterform finden ihren Ursprung in der japanischen Frühgeschichte, die man allerdings auch ganz gut exzentrisch darstellen kann. Mein Japanologie-Sensei zumindest behauptete immer breit feixend, dass alles japanische Theater vom Striptease käme.

Was er damit meinte, war folgendes: Der Ursprung allen japanischen Theaters sind schamanistische Rituale (Japans Ur-Religion ist ein allein von Frauen praktizierter Schamanismus); die Schamaninnen wanderten durch das Land Yamato und boten ihre Dienste von Weiler zu Weiler an – wobei zu ihren Diensten nicht nur schamanistische Rituale – in ihrer ursprünglichen Art wohl recht wild und wüst in der Präsentation – zählten, sondern, zwecks Unterhaltserwerb, auch Prostitution. Zugegeben, man kann sich heute diese pralle Sicht auf die Ursprünge von No nur noch schwer vorstellen, wenn man die sich bei aller Gravität grazil bewegenden Männer – und nur Männer – auf der Bühne sieht.

Weshalb wir flux in eine nähere Vergangenheit springen. No, so wie wir es heute kennen, ist eine Form von erst shintoistischem, dann auch buddhistischem Ritual. Die No-Theatergruppen standen zu Anfang denn auch alle im Lohn von Schreinen (stets shintoistisch) oder Tempeln (stets buddhistisch), und präsentierten ihre Kunst auch nur dort, im Rahmen des jeweiligen Ritualzyklus.

Mit dem politischen Fall des Adels wie des Religionsstands am Ende der Heian-ra und dem rapiden Aufstieg des Kriegerstandes zur herrschenden Schicht des Landes – wir befinden uns jetzt etwa zu Beginn des 15. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung – wurde das No weitestgehend säkularisiert. Es entwickelte sich zum Theater des Schwertadels, die Patronage für die Gruppen übernahmen nun die Fürs-tenhäuser. Von denen sich die No-Gruppen mit der Degenerierung des Schwertadels ab Mitte des 16. Jahrhunderts wiederum lösten und generell unabhängig wurden.

Damit einher ging eine Öffnung hin zum gemeinen Volk. No war ursprünglich allein der Führungsschicht vorbehalten, die nun nicht nur No schauen, sondern auch praktizieren durfte, und sich dann oft doch lieber mit dem viel spektakuläreren, pralleren Kabuki oder dem Puppenspiel Bunraku auseinandersetzte, was schließlich zur Fossilisierung, zum Ende von No als breiter, sich entwickelnder Kultur führte.

Gewisse Lockerungstendenzen im No zeigten sich allerdings schon im 15./16. Jahrhundert, als dem No die kyogen-Zwischenspiele fest hinzugefügt wurden. Eine No-Aufführung ist normalerweise eine ziemlich zeit- und vor allem konzentrationsaufwendige Angelegenheit: Meist werden an einem No-Nachmittag fünf Stücke hintereinander dargeboten.

Die meist nur kurzen kyogen-Spiele werden zwischen den einzelnen No-Stücken dargeboten. Sie dienen einerseits ganz schlicht zur Auflockerung der Veranstaltung, und andererseits oft genug auch zur Kommentierung des gerade gesehenenen Stücks, das in einigen Fällen selbst für Japaner eine nur schwer zu durchschauenden und zu begreifende Handlung hat. Was auch daran liegt, dass die No-Sprache ein selbst für gebildete Japaner kaum verständliches, extrem altertümliches Kunst-Japanisch ist, das zu keiner Zeit je etwas direkt mit der Alltagssprache zu tun hatte.

No, nun, ist eh eine Kunst-Kunst: Es ist eine extrem artifizielle Darstellungsform, die keine Verbindung zur Realität, zum Realismus kennt oder sucht, sondern die allein einer Art spirituellen (Re)Präsentation verpflichtet ist. No lebt aus der Spannung zwischen dem Material der Darstellung und ihres Umfeldes – Gesang, Tanz, Rezitation... –, und dem, was diese Gesamtheit symbolisiert. Es ist die Spannung zwischen Dies- und Jenseits, vermessen wird der Abstand zwischen den Göttern und den Menschen. Oft genug handeln die Geschichten denn auch vom Kontakt mit dem Jenseits, bzw. wesentlichen spirituellen Erfahrungen im Diesseits – weshalb sich No auch eigentlich nicht zu modernisieren braucht. No handelt von Dingen, die so wesentlich und unveränderlich sind, dass sie sich nicht verändern werden und dürfen.

Sa, 17. und So, 18. Juni, 19 Uhr, Thalia

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