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■ An die Arbeit! (3) Die Politik fordert mehr „Selbstverantwortung“. Doch dazu muß auch Widerstand gegen den Wettbewerbsterror gehörenJedem eine zweite Chance

Die Reformen, die unweigerlich durchgehen, das sind die Reformen von Begriffen – zum Beispiel dem Wörtchen „Reform“. Vor 40 Jahren kündigte Bundeskanzler Adenauer „umfassende Sozialreformen“ an, die höhere Renten bescherten. Seit den 90er Jahren münden „Sozialreformen“ in Kürzungen. Vorsichtshalber spricht die SPD daher in ihrem Wirtschaftspapier lieber von „Innovationen“, was eigentlich ein technologischer Terminus ist. Das nennt man „Kampf um die Begriffe“.

Arbeitgeber, Regierung und SPD stürzen sich neuerdings auf einen Begriff, der verdächtig konsensfähig ist: die „Selbstverantwortung“. Nicht nur Konservative, auch die SPD propagiert jetzt die berufliche Selbständigkeit und fordert in ihrem wirtschaftspolitischen Leitantrag: „Wir brauchen ein richtiges Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität.“

Der Ruf nach mehr Eigenverantwortung ertönt in einem Moment, in dem die Bereitschaft der Menschen tatsächlich erlahmt ist, Einlagen in Solidarsysteme zu leisten. Rund die Hälfte der Bürger würde Steuern hinterziehen, wenn sich die Gelegenheit böte, so ergab eine Befragung des Bundes der Steuerzahler. Durch Internationalisierung und Deregulierung öffnen sich die äußeren und inneren Grenzen der Solidargemeinschaften. Kapitalflucht ins Ausland ist gängige Praxis, die Auslagerung in Scheinselbständigkeit spart Sozialversicherungsbeiträge. Wenn Kollektive sich entgrenzen, schwindet jedoch das Vertrauen, Solidarbeiträge zu leisten.

Ähnliches gilt auch für die Versuche, Arbeit umzuverteilen. In ein anonymes Kollektiv gibt niemand freiwillig Arbeitszeit und Einkommen ab. Deswegen scheiterte ÖTV-Chef Mai kürzlich mit seiner Tariftaktik, Arbeitsplätze offensiv gegen Lohnverzicht einzutauschen. Die Basis versagte ihm die Gefolgschaft. Die Lockerung der Solidargemeinschaften ist von den Individuen selbst ein Stück weit gewollt.

Die Rede von der „Selbstverantwortung“ dient den Kritikern des Sozialstaats allerdings vor allem dazu, soziale Kürzungen zu rechtfertigen. Sie basteln daraus ein Elitemodell für die Begabten, Einsatzfähigen und Gesunden. Mehr Eigenbeteiligung für die Kranken! Weniger Kündigungsschutz am Arbeitsplatz! Das „Selbst“ wird beschworen und gleichzeitig auf Eigenbeteiligungen, private Altersvorsorge und damit letztlich den wirtschaftlichen Erfolg reduziert. Bundespräsident Roman Herzog empfiehlt, mehr „Selbstverantwortung“ zu übernehmen und diese Freiheit als „Gewinn“ zu empfinden. Genau, es geht um den „Gewinn.“

Dabei wird unterschlagen, daß zur „Selbstverantwortung“ zwingend auch die Selbstbestimmung gehört, und zwar darüber, inwieweit sich ein Individuum dem Wettbewerbsdruck, der Ökonomisierung, aussetzen will oder nicht. Zur Selbstverantwortung gehört die Wahl einer Tätigkeit, die Spaß macht, die Freiheit, sich in einer „brotlosen Kunst“ zu üben, sich für eine löchrige Biographie mit Familien- und sonstigen „Aus-Zeiten“ zu entscheiden. In den 70er Jahren boten linke Milieus den Rahmen für alternative Lebensgestaltung. In den 90er Jahren liegen die Alternativen möglicherweise nur im Individuum selbst. Vielleicht ist das Individuum die einzige Chance gegen den „Terror der Ökonomie“ (Viviane Forrester). In der „Selbstverantwortung“ liegt ein Potential für Subversion – und für Glück.

„Selbststeuerung“, das Gefühl auch unter schwierigen Umständen eine Art Kontrolle ausüben zu können, gilt in der jüngeren Glücksforschung des US-Wissenschaftlers Mihaly Csikzentmihaly als ein wichtiger Aspekt des Glücks. Ein Glück, daß die meisten seiner Probanden vor allem bei der Arbeit und im Kontakt mit anderen Menschen empfanden. Dieses Glück ist weniger abhängig von einem hohen materiellen Lebensstandard als oft angenommen.

In einer internationalen Befragung nach der persönlichen Glückseinschätzung lagen die Westdeutschen auf dem gleichen Niveau wie die Nigerianer. Und die Bundesdeutschen haben vor 40 Jahren wohl durchaus ein Gefühl von „Selbststeuerung“ gehabt, obwohl das Arbeitseinkommen nach heutiger (!) Kaufkraft im Jahre 1955 durchschnittlich nur 1.200 Mark netto monatlich betrug (nominal waren es 315 Mark).

Wer „Selbstverantwortung“ tragen soll, braucht nicht unbedingt mehr Geld, muß aber ein Gefühl von Teilhabe und von Handlungsoptionen haben. Und die wichtige kollektive Aufgabe in der Wettbewerbsgesellschaft liegt darin, den Individuen eben genau dieses bestimmte Maß an Handlungsoptionen zu sichern.

Das bedeutet, Ausschlüsse – etwa durch Langzeitarbeitslosigkeit – zu verhindern. Es bedeutet, den Individuen „zweite Chancen“ (Anthony Giddens) zu eröffnen, beispielsweise die Möglichkeit zum Wiedereinstieg nach einer längeren Arbeitslosigkeits- oder Verschuldungsphase, nach seelischen Krisen. Handlungsoptionen, das beinhaltet auch die Chance zum Ausstieg aus dem Wettbewerb, wenn das aus persönlichen Gründen geboten erscheint – und zwar ohne die übliche Entwürdigung der Erwerbslosen.

In der Arbeitsförderung könnte die Politik einen ersten Schritt für eine solche „soziale Grundsicherung“ tun. Es wäre einen Versuch wert, die Arbeitsförderung zusätzlich zu den bestehenden Beschäftigungsprogrammen zu individualisieren. Angenommen, jeder länger Erwerbslose könnte über einen Teil seines Arbeitslosengeldes selbst verfügen und diesen als unbürokratischen Lohnkostenzuschuß für eine „Probezeit“ zu jedem selbstgewählten Arbeitgeber mitbringen. Angenommen, Beschäftigte, die mal eine Weile etwas anderes machen wollen, könnten temporär aussteigen und bekämen dafür einen „Teillohnausgleich“, wenn dafür ein anderer den Job übernimmt. Angenommen, die Arbeitsämter begriffen sich als „Agenturen“ für solche Vermittlungen, „Agenturen“, die auch einen Pool an ehrenamtlichen Tätigkeiten bereithielten. Ein solches Experiment hätte mehr mit „Selbstverantwortung“ zu tun als die gegenwärtige paternalistische Debatte über „Anreize“ und „Arbeitspflicht“, die Erwerbslose demütigt.

Eine solche soziale Grundsicherung gehörte zu einer „Politik der Würde“ (Avishai Margalit), einer Politik der Achtung auch der Langsamen, Eigenbrötler, Nicht- Verwertbaren. Und eine solche Politik ist in einer zwanghaft auf den Wettbewerb fixierten Gesellschaft vielleicht die bedeutsamste Aufgabe, die das Kollektiv bewältigen muß. Barbara Dribbusch

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