■ An Serbiens Misere ist nicht nur der Präsident Schuld. Auch die Opposition hat die Geschichte nicht aufgearbeitet: Die Dämonisierung von Milošević
Gerade für den gebildeten und aktiven Teil der serbischen Bevölkerung ist die Entscheidung gefallen. Der noch vor wenigen Jahren umjubelte Slobodan Milošević muß weg. Selbst bei den breiten Bevölkerungsschichten der städtischen Unterschichten und vielen Menschen auf dem Lande, die nach wie vor Milošević unterstützen, ist von der fast religiösen Verehrung für den Führer aller Serben nicht mehr viel übriggeblieben. Die Ikonen mit dem Bildnis von Milošević, die seit Ende der achtziger Jahre die Wände mancher Kirchen zierten, sind zum großen Teil abgenommen worden. Auch diese Institution ist dabei, von Milošević abzurücken.
Die serbischen Mittelschichten sind in ihrem Stolz getroffen. Für jene, die vor nicht allzu langer Zeit wie selbstverständlich ohne Visa in fast alle Länder dieser Welt reisen konnten, muß es in der Tat unerträglich erscheinen, nun an den ausländischen Botschaften Schlange stehen zu müssen. Noch stärker mobilisierend wirkt das weit verbreitete Gefühl, durch das Regime von Milošević technisch und ökonomisch vollends ins Hintertreffen zu geraten.
Durch den Krieg zu einem Paria unter den Völkern Europas geworden zu sein, ist für viele Serben nicht mehr erträglich. Um so mehr, als viele die Rolle, herrschendes Volk im ehemaligen Jugoslawien gewesen zu sein, verinnerlicht hatten. Die unkritische Begeisterung und weit verbreitete Bewunderung für das angebliche staatsmännische Geschick von Milošević, ist jetzt umgeschlagen in Wut und Aggression. Jetzt wird herausgeschrien, was noch vor wenigen Monaten kaum jemand zu flüstern wagte. „Er“ habe den Krieg begonnen und Serbien in die Misere geführt. Nur durch „seinen“ Sturz könne die Gesellschaft gerettet und gereinigt werden.
Sicherlich: Diese Position hat Kraft und kann über kurz oder lang erfolgreich sein. Die Chancen für Milošević, seine Herrschaft über die Wahlgänge dieses Jahres hinaus zu verlängern, sind dramatisch gesunken. Das demokratische Oppositionsbündnis Zajedno hat innenpolitisch soweit an Gewicht gewonnen, daß es wohl in absehbarer Zeit in der Lage sein wird, die Mehrheit der Gesellschaft hinter sich zu bringen. Auch im Ausland wird das noch vor wenigen Wochen weitgehend akzeptierte Argument von dem „stabilisierenden Faktor Milošević“ zunehmend in Frage gestellt und versucht, der Opposition Rückendeckung zu geben. Auch deshalb haben die Biographien der Oppositionsführer soviel Interesse erregt.
Kein Zweifel: Der Sturz von Milošević soll die Tür für eine Reintegration der serbischen Gesellschaft in ein zusammenwachsendes Europa öffnen. Und die formalen Bedingungen dazu wären erfüllt, da die Opposition nicht müde wird zu versichern, die durch die EU gesetzten Standards bezüglich der Demokratisierung, der Menschenrechte und auch der Rechte der Minderheiten einzuhalten.
Und doch sind Fragezeichen angebracht. Die Frage, ob die Selbstreinigung der serbischen Gesellschaft allein über den Sturz Milošević' vor sich gehen kann, muß zwar von ihr selbst beantwortet werden. Es ist jedoch auch zulässig, von außen darauf hinzuweisen, daß die Dämonisierung von Milošević kein Ausweg ist, alle Fragen über die Schuld am Krieg und den damit verbundenen Verbrechen von sich zu weisen. Wer einen stabilen Frieden will, muß eine echte Versöhnung mit den Nachbarnationen anstreben. Und dazu gehört nun einmal die Debatte um die Vergangenheit, um die Kriegsschuld, um die Verbrechen.
Tut die Opposition in diesem Zusammenhang wirklich gut daran zu vermeiden, die wichtigsten Selbstlügen der serbischen Gesellschaft aufzudecken? Allein Milošević die Schuld am Kriege zuzuschreiben, vernachlässigt die Begeisterung, mit der viele Serben als Freiwillige in den Krieg gezogen sind. Sind die Worte schon vergessen, die glauben machen wollten, Serbien sei überall dort, wo ein serbisches Grab zu finden ist? Wurde nicht mit der auch von Vuk Drašković vor 1991 vorgetragenen Propaganda, Kroatien sei ein Ustascha-Staat, Angst und Schrecken unter den Serben Kroatiens verbreitet und sie damit zum Waffengang getrieben? Entschuldigt der als moderater Demokrat auftretende Zoran Djindjić nicht sogar die Teilung Bosniens und damit die Verbrechen der sogenannten ethnischen Säuberungen bis heute? Würde er also, wäre er Präsident, dazu beitragen, Karadžić und Mladić an Den Haag auszuliefern?
Auch in den Reihen der Opposition wird mehrheitlich – und oft gegen den Willen der Führer – an den hergebrachten nationalen Mythen festgehalten. Die Kosovo-Albaner werden von großen Teilen des Fußvolks nach wie vor als eine Art Untermensch betrachtet, den Muslimen Bosniens wird weiter ihr Recht, sich als Nation zu definieren, abgesprochen. Nach wie vor werden Milošević, Tudjman und Izetbegović in einem Atemzug genannt. Nur bei den Kriegsverbrechen sind plötzlich alle gleich. Nach wie vor heißt es, alle Seiten hätten gleichermaßen Schuld.
Die Taktik, an das vorhandene Bewußtsein anzuknüpfen, um erst einmal das Etappenziel, den Sturz des Tyrannen, zu erreichen, die hinter Djindjić' Position zu stehen scheint, mag zwar erfolgreich sein. Das Argument, die serbische Oppositionsbewegung könnte in Gefahr geraten, bei einer Diskussion über die Geschichte an Durchschlagskraft zu verlieren, ist in der Tat nicht ganz von der Hand zu weisen. Und angesichts der Tatsache, daß in Deutschland erst die zweite Nachkriegsgeneration offen über die Verbrechen der Nazizeit sprechen konnte, daß in der Schweiz lange Zeit das Bankgeheimnis der historischen Wahrheit übergeordnet blieb, daß die österreichische Gesellschaft sich vor jeder Mitverantwortung drückt, ist es wohl von der serbischen Gesellschaft viel verlangt, die eigene Schuld und nicht nur die ihres Präsidenten einzugestehen.
Und doch bleibt das Problem bestehen: Ohne die gesellschaftliche Debatte über die Geschichte ist ein stabiler Frieden mit den Nachbarn nicht möglich. Verkäme die Oppositionsbewegung zu einer Imagepflege für jene Nation, die den Krieg begann, diente sie letztendlich nur dazu, Entlastung für das nach der militärischen Niederlage angeschlagene serbische Selbstbewußtsein zu schaffen. Mit der Hoffnung, der Opposition möge es gelingen, den Tyrannen zu stürzen, verbindet sich die Solidarität mit all jenen, die es auf sich nehmen, jenes gesellschaftliche Bewußtsein, das in den Krieg geführt hat, zu hinterfragen. Es gibt nicht nur einen Dämonen, den es zu bekämpfen gilt. Erich Rathfelder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen