■ Amerikas Richter trauen Kindern zu, dass sie Monster sind: Rachejustiz
Raoul Wüthrich, 11 Jahre, ist frei. Ein Gericht in Colorado setzte ihn wegen eines Verfahrensfehlers auf freien Fuß. Kip Kinkel hingegen, zur Tatzeit 15, muss wegen Mordes für 111 Jahre ins Gefängnis. Das Urteil erging im Bundesstaat Oregon. Ersterer hat etwas vergleichsweise Harmloses gemacht (er soll seine kleine Schwester unsittlich berührt haben). Kip Kinkel hingegen hat seine Eltern und zwei Klassenkameraden erschossen und 24 Schüler mit Schüssen verletzt. So ist doch alles in Ordnung, das Recht hat gesiegt. Oder?
Im Gegenteil: Beide Fälle beweisen, dass die amerikanische Justiz sich den Errungenschaften des modernen Strafrechts verweigert. Schließlich nahm man schon zur Zeit der Aufklärung Menschen minderer Verantwortungsfähigkeit aus der allgemeinen Strafjustiz aus. Die Untaten von Kindern und Jugendlichen gelten seitdem als korrigierbare Verirrung, die Täter als rehabilitierbar. Nur: In einer Reihe von amerikanischen Bundesstaaten gelten diese Grundsätze nicht mehr. Was immer Raoul Wüthrich mit seiner Schwester gemacht hat, mit 11 Jahren gehört er nicht ins Gefängnis. Ein Jugendpsychologe oder Familientherapeut hätte sich des Jungen und seiner Eltern annehmen sollen.
Kip Kinkel erklärte, seit seinem 12. Lebensjahr Stimmen gehört zu haben, die ihm befahlen, Eltern und Mitschüler zu töten. Er bat wiederholt um psychiatrische Behandlung. Sie wurde ihm verweigert – kein Geld, keine Zeit, kein Verständnis. Kip Kinkel gehörte und gehört in ärztliche Behandlung, nicht in besonders strenge Einzelhaft und ins Gefängnis für den Rest seines Lebens.
Die amerikanische Öffentlichkeit traut ihren Kindern fast alles zu und hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass Kinder Monster sind. Im Bundesstaat New York hat der Gouverneur Anfang dieser Woche 120 Millionen Dollar zusätzlich für die Psychiatrie beantragt, nachdem psychisch Kranke zweimal Menschen umgebracht hatten – nachdem sie wiederholt von psychiatrischen Kliniken abgewiesen worden waren. Kip Kinkels Richter sagte in seiner Urteilsbegründung, ihm sei die Genugtuung und der Seelenfrieden der Überlebenden und Hinterbliebenen des Massakers wichtiger als die Rehabilitierung des Täters. Auch damit weicht die amerikanische Strafjustiz von einem Grundsatz der Aufklärung ab. In Amerika ist die Rechtsprechung zur Rachejustiz verkommen, die die Schwächsten opfert: Kinder und Geisteskranke. Peter Tautfest
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