Am Ende siegt die spektakuläre Effizienz

Auch nach seinen Toren beim französischen 3:0 gegen Brasilien im Finale ist Zinedine Zidane nicht der große Held der Fußball-WM: Der Star ist die Equipe, ihre Protagonisten heißen Deschamps und Jacquet  ■ Aus Paris Peter Unfried

Daß der Himmel gestern grau war, kann doch wirklich nur ein Zufall gewesen sein. Im Regen mußten die Müllmänner die letzten Spuren einer schönen, warmen Nacht zusammenkehren, die Leute machten, daß sie von der Straße kamen, und man muß sagen, daß der Tabakdealer in seinem Nationaltrikot fast schon wieder ein bißchen seltsam aussah. Vielleicht täuscht der triste Eindruck ja auch, ist der Himmel eigentlich blau, wie das ganze Leben: „La vie en bleu“, wie selbst Libération sich gestern nicht verkneifen konnte zu titeln. Man hat guten Grund: Der erste WM-Titel für Frankreichs Fußballer ist „der größte sportliche Erfolg in der Geschichte Frankreichs“, da waren sich Premier Jacques Chirac und Trainer Aimé Jacquet einig.

Die grundsätzliche Erkenntnis des 3:0 über Brasilien dürfte sein: Der Sieg Frankreichs ist die Niederlage Ronaldos. Das auf einen Spieler, den besten der Welt, hinauslaufende Prinzip Mario Zagallos (und Nikes) hat verloren gegen das Prinzip Aimé Jacquets. Weil der Fußball und speziell ein WM- Endspiel sich immer nach einem Protagonisten sehnt, wäre es nach seinen etwas überraschenden Kopfballtreffern naheliegend, den französischen Spielmacher und Adidas-Angestellten Zinedine Zidane zu erwählen. Zidane (25) pflegte seine Endspiele bekanntlich zu verlieren und hatte sich die WM durch einen Platzverweis selbst schwer beschädigt. Nun war er zweimal da, als es galt, einmal nach Petits Ecke von rechts, einmal nach Djorkaeffs Ecke von links. Petit schlug schon an der Eckfahne die Hände vors Gesicht, denn er konnte kaum glauben, daß der fragile Zidane sich mit zwei Schritten vom noch fragileren Leonardo wegbewegte und dann geradezu bierhoffartig einköpfte. „Köpfen ist nicht eben meine Stärke“, sagte auch Zidane selbst, „insofern sind zwei Kopfballtore eigentlich unglaublich.“

Seit Kempes (1978) hat niemand in einem WM-Finale zwei Tore gemacht. Zidane hat sich also eingereiht in einen sehr exklusiven Klub, dem neben dem Argentinier nur die Brasilianer Pelé und Vava (1958), die Italiener Piola und Colaussi (1938) sowie Helmut Rahn angehören. Vorsitzender ist Geoff Hurst (drei Tore 1966).

Es wäre dennoch ungerecht, Zidane nun zum großen WM-Star auszurufen. Er spielte ein gutes Finale, indem er das beitrug, was er kann. Er machte darüber hinaus die Tore, wie Rechtsverteidiger Lilian Thuram über seinen üblichen Beitrag hinaus im Halbfinale gegen Kroatien plötzlich seine ersten beiden Länderspieltore gemacht hatte – in einem Moment, als das Team zum ersten und einzigen Mal zurücklag und dringend etwas Spezielles brauchte.

Eigentlich aber war der Star die Equipe – der Grund für ihren Sieg die von Aimé Jacquet geschaffene und von Kapitän Didier Deschamps personifizierte und perfekt organisierte Verteidigung. Deren Niveau wurde ermöglicht durch die individuelle Klasse der in Frankreich hervorragend geschulten und nun über Europas Topklubs verteilten Spieler, insbesondere der Defensivkräfte: Thuram und Desailly sind schnell, souverän und haben enorme physische Präsenz. Wenn Blanc da etwas fehlt, gleicht er es durch Kopfballstärke und Torgefährlichkeit aus. Auch sein noch unspektakulärerer Vertreter Leboeuf ist von spektakulärer Effizienz.

Die Abwehr arbeitete perfekt zusammen mit den davor schuftenden Deschamps und Petit (und hin und wieder Karembeu). Wie perfekt, das beweisen zwei Gegentore in sieben Spielen, eines durch Elfmeter. Aber organisiert und stürmerlos war das Team auch 1996, und am Ende hatte es sich zu Tode organisiert. Dieses WM-Finale gewann man nicht nur ohne Stürmer, sondern trotz eines vorne sich befindenden Stephane Guivarc'h. Der Mann, der seinen Chancen nach Hurst hätte überholen müssen, ist nun immerhin der überwältigende Beweis für des Trainers Logik, von seiner Sorte allerhöchstens einen spielen zu lassen. Diese Schwäche wurde weggesteckt, weil sich immer einer fand, sich aus dem Kollektiv emporzuheben, um ihm mit einem nicht kalkulierbaren individuellen Beitrag weiterzuhelfen: Henry, Blanc, Thuram, Zidane.

Die prägenden Gesichter im fünfwöchigen WM-Film gehören dennoch zwei anderen. Der eine Mann ist Didier Deschamps (29), dieser „Selbstverleugner“, dieses „Arbeitsmonster“ (L'Equipe). Der Kapitän hat für die Mannschaft gesprochen, was zu sagen war. Spätestens als er Zidane nach dessen Platzverweis wegen Gefährdung der gemeinsamen Sache öffentlich abstrafte, war klar, wer hier befahl – und wer gehorchte. Es ist auch kein Zufall, daß Michel Platini ihn extra lange herzte: Deschamps hat möglich gemacht, was Frankreichs größter Fußballer nicht vermochte – und ein von Zidane geführtes Team wohl auch nicht. Er konnte es, weil er Deschamps war, ein pausenlos mit kleinen, schnellen Schritten arbeitender Vollprofi, der selbst in der Stunde des Überschwangs eine heitere, aber souveräne Gelassenheit verbreitete.

Aimé Jacquet verhielt sich genauso. Den Pokal in Händen schrie er ein paar Worte heraus, war aber schon wieder gefaßt, als die Menge im Stade de France, Jacques Chirac eingeschlossen, dem jahrelang schwer in der Kritik stehenden Trainer mit einem für Pariser Verhältnisse donnernden Ruf seines Namens endgültige Absolution erteilte. Jacquet hat in der Stunde des Siegers noch einmal unterschieden zwischen „ganz Frankreich“, das „hinter uns stand“, und „Teilen der Presse“, denen „ich nie vergeben werde“ – auch wenn sich seine Hauptkritiker von L'Equipe gestern bereits zum zweiten Mal vor ihm verneigten. Es war ein Erfolg „für die Ewigkeit“, wie das Blatt auch nicht pathetischer als sonst befand. Global gesehen heißt das zwar nicht, daß Brasilianer (vier Titel), Italiener, Deutsche (je drei) und Argentinier (zwei) die Franzosen nun umgehend auf ihren olympischen Höhen Zutritt gewähren würden – zumindest den Engländern darf man sich nun als Heimsieger ebenbürtig fühlen. Das allein sollte Grund genug sein, heute einen Nationalfeiertag einzulegen.

Frankreich: Barthez – Thuram, Desailly, Leboeuf, Lizarazu – Karembeu (57. Boghossian), Deschamps, Petit – Djorkaeff (75. Vieira), Zidane – Guivarc'h (66. Dugarry)

Zuschauer: 80.000; Tore: 0:1 Zidane (27.), 0:2 Zidane (45.), 0:3 Petit (90.)

Gelb-rote Karte: Desailly (68.) wegen wiederholten Foulspiels.

Brasilien: Taffarel – Cafu, Junior Baiano, Aldair, Roberto Carlos – Cesar Sampaio (74. Edmundo), Leonardo (46. Denilson), Dunga, Rivaldo – Ronaldo, Bebeto