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DEBATTEAltruismus zeigen

■ Jelena Bonner sieht in Protektoraten eine Lösung nationaler Konflikte

Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigten eines: Auch wenn die Weltgemeinschaft die Anerkennung neuer Staaten, deren Völker für Unabhängigkeit kämpfen, verweigert, wird dies nicht den Wunsch nach Unabhängigkeit, mit welchen Kosten auch immer verbunden, stoppen. Das war so bei den baltischen Staaten, wo glücklicherweise sehr wenig Blut vergossen wurde. Kann aber irgendein Preis höher sein als menschliches Leben? In Jugoslawien jedoch führte die Verweigerung der Anerkennung trotz aller Bemühungen von UNO und KSZE in einen Krieg, der noch heute anhält. In Kurdistan fließt schon seit Jahrzehnten Blut, in Karabach wurde aus einem Konflikt ein Krieg, der nun schon vier Jahre dauert. Südossetien hat seinen Krieg schon drei Jahre, in Transdnestr werden Menschen seit zwei Jahren getötet. Nur Gott weiß, wieviele blutige Konflikte noch die Formation neuer Staaten auf den Ruinen der Sowjetunion und überall auf der Welt begleiten werden. Zwar ist die Menschheit befreit vom großen Krieg zwischen dem Westen und dem sozialistischen Block, doch wird sie umhüllt von unzähligen kleinen Kriegen, die nichts als Leid und Zerstörung bringen.

Jeder Friedenskonferenz begegnen ernsthafte Schwierigkeiten, jede Waffenruhe, jeder Waffenstillstand wird verletzt, sobald der Vertrag unterzeichnet ist. Denn jenseits des Wunsches nach Versöhnung haben Friedensmissionen den Kontrahenten nichts zu bieten. Es ist eminent wichtig, neue Wege zur Lösung der bestehenden militärischen Konflikte (Ossetien, Dnestr-Republik, Berg- Karabach, Kurdistan, Osttimor etc.) wie auch drohender (Kosovo, Nordkaukasus, Krim und Gaugasien) zu finden. Im Lichte des oben Gesagten scheint es vernünftig, ein zeitlich begrenztes Protektorat über Konfliktgebiete einzurichten. Selbst in der jetzigen Situation ist die Beendigung oder Verhinderung von Kriegen bei Verhängung eines drei bis fünf Jahre währenden Protektorates nicht ganz unmöglich. Ein Protektoratssystem könnte relativ schnell installiert werden. In jedem der Fälle sollte dies unter der Schirmherrschaft dreier Staaten geschehen, die nicht von diesem Konflikt profitieren. Sie sollten bereit sein, nicht nur die Verantwortung zur Friedenssicherung zu übernehmen, sondern auch die Versorgung mit der nötigsten humanitären Hilfe sichern und den Regionen später auch beim Wiederaufbau helfen.

Ist der Wunsch nach einem neuen Europa echt und nicht nur Deklaration, dann müßten sich unter den Mitgliedsstaaten der KSZE wie auch der UNO solche finden, die genügend Altruismus besitzen. Gegen Ende des Protektoratszeitraums sollte in der Konfliktregion ein Referendum unter internationaler Beobachtung abgehalten werden. Dessen Ergebnisse sollten dem Prinzip der Mehrheitsentscheidung entsprechend anerkannt werden. Gleichzeitig müssen aber Gesetze verabschiedet werden, die die zivilen und politischen Rechte der Minderheiten des Territoriums garantieren. Die jüngste Entscheidung der Nato, ihre bewaffneten Kräfte könnten in solchen Konfliktsituation eingesetzt werden, gibt der KSZE die Chance, sie zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Protektoraten einzusetzen. Zudem ist es nötig, einen Modus für Sanktionen gegen diejenigen Konfliktparteien zu entwickeln, die die Einrichtung eines Protektorates ablehnen und mit Kriegshandlungen fortfahren.

Die KSZE berät derzeit über Berg-Karabach. Es wäre naiv anzunehmen, die Gespräche verliefen reibungslos; nicht weniger naiv wäre jedoch zu glauben, bestimmte Kräfte könnten Berg-Karabach in den alten Zustand zurückversetzen, ohne daß ein Krieg nicht nur zwischen Aserbaidschan, Karabach und Armenien entflammt, sondern auch die umliegenden Länder involviert werden. Wäre es nicht denkbar, daß ein Protektorat diesen tragischen und blutigen Knoten zerschlagen könnte? Für Nagorni-Karabach könnten ein moslemischer Staat, ein Mitglied des Commonwealth und eines der EG Garantie-Staaten sein.

Die internationale Politik brauchte sehr lange, um zu akzeptieren, daß die Verletzung der Menschenrechte nicht als innere Angelegenheit dieses oder jenes Staates anzusehen sei. Und dennoch sind die Wege, die die UNO, die KSZE, die Europäische Gemeinschaft und andere Organisationen gehen, weiterhin mit gewaltigen Hindernissen gepflastert — um allgemeine Regelungen zur Lösung von Konflikten zu finden, die kein Ergebnis von externen Grenzverletzungen sind, sondern der Sehnsucht der Menschen nach Selbstbestimmung entspringen. Das Prinzip der Selbstbestimmung hat viele Gegner. Keiner aber hat es bisher geschafft, auch nur ein anderes Prinzip zu benennen, das auf der Verteidigung der Menschenrechte basierte und die Welt von heutigen und zukünftigen Kriegen für Selbstbestimmung erlöste. Jelena Bonner

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