Alternatives Leben um 1900: Anarchisten in Lufthemden
Zwischen Individualismus und Kollektiv – in seinem Band „Monte Verità“ rekonstruiert Stefan Bollmann die Anfänge alternativer Lebensform im Tessin.
Hier findet man Menschen, auch langhaarige, vegetarische Pensionen, usw…“, telegrafieren die Brüder Karl und Gusto Gräser im November 1900 begeistert aus Locarno an ihre drei Mitstreiter. In der Nähe des Tessiner Ortes, an dem sich zu dieser Zeit bereits andere Aussteiger tummelten, werden Henri Oedenkoven, Ida Hofmann und Lotte Hattemer gemeinsam mit den beiden Gräsers fündig. Auf einem Hügel oberhalb Asconas und mit Blick auf den Lago Maggiore erwerben sie mit dem Geld des belgischen Fabrikanten-Sohns Oedenkoven ein abgeschiedenes Terrain, um im Einklang mit der Natur die Lebensreformgemeinschaft „Cooperativa Monte Verità“ zu gründen.
In „Monte Verità. 1900 – Der Traum vom alternativen Leben beginnt“ zeigt der Münchner Autor und Lektor Stefan Bollmann minutiös die vielfältigen Herausforderungen und Entwicklungsphasen sowie Verbindungen und ideologischen Einflüsse im Umfeld der legendären Künstlerkolonie auf. Der „Berg der Wahrheit“ im Schweizer Tessin wird zum Experimentierfeld für individualistischen Nonkonformismus und gesellschaftliche Utopien.
Während der ehemalige Oberstleutnant Karl Gräser (Sein Credo: „Ohne Zwang“) gemeinsam mit Idas Schwester Jenny bald die Gemeinschaft auf dem Monte Verità verlassen wird, um als radikale Selbstversorger in unmittelbarer Nähe eine verlassene Ruine zu beziehen, führen die Pianistin Ida Hofmann und Henri Oedenkoven auf dem Berg ein Natur-Sanatorium mit vegetarischer Kost, schlichten Unterkünften und viel Bewegung – nackt oder in lockerer Reformkleidung. So wie der Schriftsteller Oskar Maria Graf besuchten auch Hermann Hesse oder die Tänzerin Isadora Duncan als Gäste den Monte Verità. Genauso der Anarchist Erich Mühsam. Der allerdings hatte für die puritanische Lebensweise der Rohköstler nur Spott bereit.
Die Brüste der Wahrheit
Begeistert griffen Hofmann und Oedenkoven die kursierenden Diäten des Schweizer Ernährungsreformers und Arztes Max Bircher-Benner in ihrem Projekt auf. Ebenso die vom Schweizer Lebensreformer Arnold Rikli propagierten Licht- und Luftbäder, die in den eigens errichteten Licht-Luft-Hütten praktiziert wurden.
In Europa waren als Reaktion auf die Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts bereits unterschiedlichste Reformbewegungen entstanden, die der urbanen Kultur den Rücken kehrten und Naturheilkunde, Freikörperkultur, Reformkleidung und das Leben in Landkommunen propagierten.
Auch die Szene, die sich im Umfeld des Monte Verità am Lago Maggiore aufhielt, war vielfältig und heterogen. Doch „sie alle standen in Opposition zum Mainstream der Zeit, wie er sich etwa im Wilhelminismus verkörperte, und waren auf der Suche nach Freiheit, nach alternativen Lebensformen, nach einem neuen Selbstverständnis, nach Sonne“, schreibt Stefan Bollmann und fasst so das Verbindende dieser zusammengewürfelten Aussteigergemeinde zusammen.
Anschaulich arbeitet der Autor einzelne Biografien sowie die Beziehungen der Protagonisten untereinander vor dem historischen Hintergrund heraus. Nur die von ihm angeführten Analogien zu späteren Alternativkulturen (wie etwa den US-amerikanischen Hippies) bleiben angesichts der Materialfülle zur Geschichte des Monte Verità eher plakativ und wenig aussagekräftig.
1978 hatte der Schweizer Ausnahme-Kurator Harald Szeemann in einer als Gesamtkunstwerk angelegten Ausstellung „Monte Verità. Le mammelle della verità“ (deutsch: „Die Brüste der Wahrheit“) die Ideenwelt der bis dahin fast vergessenen Künstlerkolonie wieder für eine lebendige Auseinandersetzung freigelegt.
Das Aufbegehren gegen die Ordnung
Mit dem irritierenden Untertitel wollte der 2005 verstorbene Ausstellungsmacher auf die vielen auf dem Berg gelebten Wahrheiten verweisen. Die brachte er auf die kurze Formel: „600 Viten, 600 Paradiesvorstellungen“.
Stefan Bollmann: „Monte Verità. 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt“. Deutsche Verlagsanstalt, München 2017. 320 Seiten, gebunden, 20 Euro
In der lesenswerten Neuerscheinung folgt Stefan Bollmann Szeemanns Betrachtung des Monte Verità als ein Schauplatz und nicht als ein Programm. So betont er in seiner Abhandlung vor allem die Vielstimmigkeit beim Erproben neuer Lebensstile und dem Aufbegehren gegen die alte Ordnung. 1920 verließen Henri Oedenkoven, seine neue Gefährtin sowie Ida Hofmann wegen der anhaltenden ökonomischen Probleme des Sanatoriums schließlich den Monte Verità und brachen nach Brasilien auf. Sechs Jahre später erwarb der deutsch-schweizerische Bankier und Kunstsammler Eduard von der Heydt das Areal und ließ auf dem Berg ein modernes Hotelgebäude im Bauhaus-Stil von Emil Fahrenkamp entwerfen.
Fortan zählten Diplomaten, Politiker, Industrielle und Künstler zu den Gästen. Doch trotz der Neuausrichtung behielt der damals deutschnational orientierte von der Heydt den Gebrauch vegetarischer Kost und luftiger Reformkleidung in moderater Form bei. Nach seinem Tod 1964 erbte der Kanton Tessin das Anwesen.
In der „Casa Anatta“, dem ursprünglichen Wohnhaus von Ida Hofmann und Henri Oedenkoven auf dem Monte Verità, ist nach Jahren des Verfalls nun seit Mai 2017 auch Szeemanns Ausstellung von 1978 wieder originalgetreu in den behutsam restaurierten Räumen zu sehen.
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