Alternatives Kirchen-Konzept: Jesus und die Sufis
In der evangelischen Hamburger "Kirche der Stille" werden Meditations- und Gebetsrituale verschiedener Religionen praktiziert.
HAMBURG taz | Was macht eine Kirche zu einem spirituellen Ort? Sind es Altar, Kanzel, Taufbecken? Oder sind es die Rituale, die diffuse energetische Spuren im Raum hinterlassen? Es ist schwer zu sagen, weil jeder Raum anders ist. Aber wenn man eine Kirche ausräumt: Dann kann man ja mal schauen, was bleibt. Ob der Raum auch ohne Inventar spirituell ist oder ob Rituale das kompensieren müssen.
Ein Experiment dieser Art hat die evangelische „Kirche der Stille“ in Hamburg-Altona 2009 begonnen. Beziehungsweise deren Erfinderin, Pastorin Irmgard Nauck. Sie stand, mit zwei anderen Pastoren des Stadtteils, vor dem üblichen Problem: zu wenig Kirchgänger, zu wenig Geld für den Erhalt der Gebäude. Also beschloss man, das Angebot aufzuteilen: einer bietet regelmäßige Gottesdienste, einer Kultur und einer – Stille. Alle drei sind neogotische Backsteingebäude, und die Kirche der Stille liegt hinter alten Bäumen in einer netten Siedlung mit Kopfsteinpflaster.
Im Unterschied zu anderen evangelischen Kirchen ist sie meist geöffnet. Von 10 bis 18 Uhr kann man wochentags hinein und sitzen. Aber nicht auf Kirchenbänken, sondern auf Meditationskissen, die um das Oktogon in der Mitte herum verteilt sind. Es wurde mit Steinen ausgemauert und in den Holzfußboden eingelassen.
Das Achteck ist die architektonische und inzwischen auch spirituelle Mitte des Raums. Die konnte man nur deshalb überhaupt orten, weil man – so wollte es Nauck – Altar, Kanzel, Taufbecken entfernte. Das war schwer zu schlucken für den Kirchenvorstand, aber irgendwann hieß es: „Probeweise versuchen wir es.“
Versuchen, was? „Einen Ort der Stille zu schaffen“, sagt Nauck. Aber ist das nicht gerade das Problem der Kirchen: dass es zu still ist, weil Gläubige fehlen? Um da gegenzusteuern, entwirft sie ausgerechnet ein Konzept der Stille? Ja, genau das, sagt Nauck, denn Grund für die Kirchenflucht sei nicht die Stille, im Gegenteil: das bevormundende Wort. Die Rede von einem personalen, exakt charakterisierten Gott. Von Dogmen wie der Jungfrauengeburt, die keiner mehr hören mag.
Gehetzte Menschen
Wie aber diese entnervten Leute locken? Naucks Antwort: „Gastgeber sein. Offen sein. Den gehetzten Menschen durch regelmäßige Gebete und Meditationen Rhythmus geben. Angebote aus verschiedenen Traditionen machen.“ Also: Rein ins Programm mit dem Aramäischen Vatermutterunser, dem Herzensgebet, der Zen-Meditation und den Sufi-Gesängen. Und schauen, ob man der Kirchenflucht und der Atemlosigkeit Einhalt gebieten kann.
Probiert man das „Gebet der vier Himmelsrichtungen“ aus, wird man aber erstmal – atemlos. „Ruff-bosch-ruff-bosch“ schnauft es zu flotter Eso-Musik. Dazu, sagt Kursleiter Joachim Reinig, sollen wir Beine und Arme nach vorn und zur Seite strecken. Wir sind acht, davon zwei Männer, wir tun es dem Vorturner nach. Ich fühle mich wie im Aerobic-Kurs. Dann der nächste Set: Auf einem Bein um den linken Zeh drehen wie ein Sufi. Ich kann das nicht, mir wird schwindlig, dem Mann neben mir auch. Aber die junge Frau mit dem Glockenrock kommt in Fahrt, und man sieht: Sie ist glücklich. Muslimische Derwische tanzen sich mit sowas über Stunden in Ekstase.
Danach der totale Kontrast: Sieben Minuten mit ausgebreiteten Armen wie Jesus stehen. Das macht mir nichts aus, das kenne ich: Auf den Atem achten statt auf den Schmerz. Spirituell zumute wird mir aber nicht. Am Schluss liegen wir wie Embryos ums Oktogon. Bloß nicht einschlafen, denke ich, sonst kann ich gleich nicht mehr fragen, was das den Leuten bedeutet.
Frischer Blick
„Ich fühle mich danach zentriert“, sagt Joachim Reinig später. „Dieses Morgenritual verleiht mir einen frischen Blick auf die Arbeit.“ Reinig ist Architekt und hat Pastorat und Gemeindesaal nebenan gekauft. Er meditiert seit 30 Jahren und leitet den Kurs seit anderthalb – ehrenamtlich. Die Meditation der vier Himmelsrichtungen sei ein fester Set von Bewegungen und Musik. Eine modifizierte Bhagwan-Methode. „Seit ich das mache“, sagt Reinig, „bin ich längst nicht mehr so zornig wie früher.“
Zorn loswerden: Ist das für viele ein Grund zu kommen? „Es ist eher die Suche“, sagt Pastorin Nauck. Wonach, wüssten die wenigsten. Es müsse mit der Lebensmitte zusammenhängen, denn die meisten kämen erstmals als 35-, 40-Jährige, seien „entfremdete Christen“. Eine Rückkehrbewegung also, eine Intensivierung vielleicht, und das gilt auch für die Pastorin: „Ich habe noch nie so viel gebetet wie jetzt“, sagt sie. „Es gab Phasen, wo ich dachte, nur wenn ich gegen die Stationierung der Mittelstrecken-Raketen protestiere, sei das Gottesdienst.“ Mit stillem Beten hatte das nichts zu tun. „Dieses bedingungslose Angenommenwerden musste ich erstmal lernen.“
Sie hat lange gesucht: in Klöstern und beim Zen-Buddhismus, aber der blieb ihr fremd. Denn da hat man keinen Gott, zu dem man „du“ sagen kann. Das stört viele, die vorübergehend im Buddhismus suchen. Aber es ist bizarr, denn viele sind ja gerade wegen dieses Gottes, den man ihnen als allmächtig verkauft hatte, geflohen. Und dann wollen sie den wiederhaben? Ja, aber nicht auf diese dogmatische, vielleicht auch naive Art, sondern – reifer. Beim Sitzen in der Stille könne jeder seinen persönlichen Gott erfahren, den kein Pastor vordefiniert habe, sagt Nauck. „Das ist ein mystischer Weg.“
Mönche in der Wüste
Diese Art der Versenkung gibt es in vielen religiösen Traditionen. Auch im Christentum, aber die Kirche förderte das nie. Mystiker waren wegen ihrer autonomen Gottesbeziehung eher verdächtig. Die brauchten nämlich keinen Pastor als Mittler und waren daher unkontrollierbar. Im Grunde waren sie die ersten Aussteiger des Christentums: Schon im 4. Jahrhundert gingen Mönche in die ägyptische Wüste, um als Eremiten und Mystiker zu leben. Denn dass das Christentum zur behäbigen Institution wurde, missfiel ihnen.
Und jetzt – bizarres Déjà-vu – bietet die Kirche den Menschen diesen Uralt-Weg der emanzipierten Gotteserfahrung an, um sie zu halten. Dabei würde sich Irmgard Nauck nie als Revoluzzerin bezeichnen, und sie ist ja auch nicht die einzige. Aber sie setzt ein Beispiel, indem sie archaische Wege reaktiviert. Zum Beispiel das Herzensgebet, das besagte Wüstenväter erfanden. Diese Methode habe sie sofort gepackt, sagt sie.
In der Kirche der Stille gibt es das einmal pro Woche, und an diesem Donnerstag leitet es nicht Nauck, sondern der ehemalige Pastor Wolfgang Lenk. Wir sind zehn Frauen zwischen 40 und 60 und sitzen auf orange Meditationskissen um das Oktogon. Lenk erklärt die Meditationshaltung, spricht vom Sich-Erden und dem Sich-Aufrichten und sagt, schon das sei eine „voll gültige Meditation“. Er will uns wohl ermutigen. Dann sitzen wir 20 Minuten schweigend.
Wiederholte Worte
Herzensgebet bedeutet, dass man in Gedanken ein Wort oder eine Sequenz wiederholt. Das kann „Jesus Christus“ sein, „Du mein Licht“ oder „Shalom“. „Es sollen Worte sein, die beschreiben, was Gott für mich ist“, sagt Nauck. Aber wie findet man das richtige? „Das Wort kommt zu einem“, hat Nauck vorher gesagt, und dass sie im Kurs immer einige vorschlage.
An diesem Donnerstag schlägt niemand etwas vor. Zugegeben, ich bin die einzige Neue, und vermutlich haben die anderen ihre Worte schon. Ich finde mich ab: Meditieren ist ja immer schön. Irgendetwas surrt; es klingt wie ein Wäschetrockner, kommt aber von der Dachluke her.
Aber darauf will ich jetzt nicht achten, sondern auf meinen Atem, den Klassiker der Meditation. Das ist nett hier, denke ich und werde müde. Und als ob Herr Lenk es gerochen hätte, klatscht er in die Hände. Aufstehen, sofort! Er hat es vorher angekündigt, aber es wirkt trotzdem wie beim Militär. Und wer zu langsam ist, hat Pech gehabt. Wir laufen ums Oktogon, setzen uns wieder. Nochmal 20 Minuten Stille. Die Wechsel sind abrupt, wir werden nicht in die Meditation hinein- und hinausgeleitet, man überlässt uns uns selbst.
Gelassener geworden
Ich bin nicht zufrieden mit diesem Abend, aber anderen gefällt’s. „Eigentlich wollte ich Mantren singen“, sagt Susanne Mielke, sie ist um die 40. Aber dann war die Stille in Ordnung. Denn sie arbeitet in der Psychiatrie, und da sei es oft sehr laut. „Seit ich zum Herzensgebet komme, bin ich viel gelassener geworden. Das hilft mir wirklich.“
Es hilft, obwohl die Kurse einiges kosten, damit sich die Kirche der Stille trägt. Die Leute, die kämen, seien zwischen 35 und 50, sagt Nauck. „Das ist genau die Gruppe, die in den regulären Gottesdiensten fehlt.“ Allerdings ist die Fluktuation groß: Zwar kommen jedes Mal Neue zu den regelmäßigen Meditationen. „Aber nur jeder Achte kommt wieder.“ Ob sie das bedauert? „Wir könnten gar nicht so viele verkraften“, sagt sie diplomatisch. „Außerdem können wir nur Angebote machen. Seinen Weg muss jeder selber finden. Und Leute, die unseretwegen wieder in die Kirche eintreten: Die sind wirklich selten.“
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