: Alternatives Insel-Hüpfen
Wo die Häfen wie Bahnhöfe sind: Übers Mittelmeer auf den griechischen Kykladen. Das Insel-Hüpfen als Gegenbegriff zum Pauschaltourismus. Besonders im Frühjahr lassen sich dabei Entdeckungen machen ■ Von Jonas Viering
In den 60er Jahren, als Joni Mitchell in den Höhlen von Matala (Kreta) das Meer besang, war die Inselwelt der Ägäis noch Reiseziel der internationalen Hippie-Szene. Dann zogen die Hippies auf der Suche nach Sonne, Zivilisationsferne und niedrigen Lebenshaltungskosten nach Indien – und nach ihnen kamen die Touristen.
„Island-Hopping“ ist seitdem der stehende Ausdruck für den „alternativ“-touristischen Umgang mit den griechischen Inseln. Das „Insel-Hüpfen“ versteht sich als Gegenbegriff zum Pauschaltourismus der Bräunungswütigen wie auch zum Yachttourismus der Schönen und Reichen. „Island- Hopping“ ist wie „Interrail“: Den tollsten Urlaub hatte, wer die meisten Inseln gesehen hat. Eine Insel wiederum hat gesehen, wer einmal am Strand war und das Inselwahrzeichen besucht hat.
Wer die Inseln mit Wahrzeichen meidet – die Windmühlen von Mykonos, das Tempeltor von Naxos, die Discos von „Party-Island“ Ios –, wer statt in den Sommerferien im Frühjahr (oder Herbst) verreisen kann und wer sich für den Anfang auf einige wenige Inseln beschränkt, kann auf den Kykladen jedoch immer noch eine der vielfältigsten Landschaften Europas erleben.
Abfahrt vom Heimathafen Piräus
Nach wenigen Stunden Flug auf das knallheiße Rollfeld des schäbigen Athener Flughafens gespuckt, vom Expreßbus 19 zum Hafen Piräus gekarrt, ist der Reisende schon mittendrin. Der Hafen ist keine Touristenkulisse, sondern schlicht Umschlagplatz. Und doch ist er exotisch: Zwischen Dutzenden von rostigen Frachtern und strahlend weißen Großfähren ragt ein Jahrhundertwendebau, dessen obere Stockwerke leer stehen, der aber über und über mit Reklametafeln behängt ist, die Schiffspassagen in wirklich alle Ecken der Ägäis anpreisen, unterstützt von den mehrsprachigen Marktschreiern der winzigen Ticketagenturen im Erdgeschoß. Dabei ist es egal, in welches der Büros der Ratlose sich zerren läßt: Die Fahrscheine kosten überall fast das gleiche. Der Preis von 30 Mark für die Strecke Athen–Santorin ist staatlich begrenzt, da viele der 1,5 Millionen auf 164 Inseln lebenden Griechen schon zum Kleiderkaufen die Fähre nehmen müssen. Darin liegt ein Gutteil des Charmes der griechischen Inselreisen: das Schiff ist ein normales Verkehrsmittel, die Häfen sind Bahnhöfe.
Sattelschlepper voll Dosenbier und Blumenerde, Oma im Rollstuhl und Säugling im Kinderwagen – buchstäblich alles wird per Schiff auf die Inseln gebracht. Als dummer Ausländer steht man am Rand und kann kaum die griechischen Schriftzeichen der Schiffsnamen entziffern – die aber sind wichtig, weil das Fahrtziel oft nirgends dransteht.
Wenn man sich dann glücklich mit allen Griechen ganz oben auf der mehrstöckigen „Knossos“ an der Heckreling drängelt, kommt – die Heckklappe ist schon halb oben, eines der Haltetaue schon gelöst – immer doch noch einer angerannt. Die Schiffsoffiziere, Könige ganz in Weiß, brüllen ein wenig herum, die Klappe wird wieder heruntergelassen, ein Mofa verladen, die Schlüssel mutig auf die bereits wegdriftende Fähre geworfen; und immer noch pünktlicher als die Bundesbahn legt das Schiff ab.
Wer bei längeren Überfahrten – die nachts stattfinden, damit die Reisenden tags ihre Besorgungen erledigen können – nicht den Aufpreis für eine Kabine hinblättert, muß sich mit zwei Pullovern auf dem stahlharten Schiffsdeck eine ruhige Ecke suchen. Die mit Teppichboden und bronzierten Spiegeln ausgestatteten Innenräume werden von Fernsehern beschallt und von der Klimaanlage tiefgekühlt. Wenn frühmorgens die „Knossos“ in ihren Zielhafen einläuft, werden die Schlafenden durch zuckersüß brüllende Schlagermusik geweckt. „Kalimera, ti kanis?“ wird dreimal gespielt: „Guten Morgen, wie geht's?“
Santorin, postkartenschön
Santorin, auch Thira genannt, ist neun Stunden von Athen entfernt einer der Stars der Kykladen. Verständlich: Die spektakuläre Geographie der nach einem Ausbruch 1450 v. Chr. fast nur noch aus dem Kraterrand eines ins Meer gesunkenen Vulkans bestehenden und von schwarzen Lavastränden gesäumten Insel macht Kykladenklischees wahr.
Wer meint, den Touristenströmen in Oia auf der Nordspitze entkommen zu können, wo die weißbuckligen „typischen“ Kykladenhäuser sich auf der Klippe drängen, wundert sich abends über die aus Dutzenden von Reisebussen quellenden Menschen. Die kommen extra wegen des reiseführernotorischen Sonnenuntergangs. Deshalb kostet hier auch das einfachste Doppelzimmer in der Nebensaison knapp 40 Mark die Nacht – aber das ist dann auch nicht im Bungalow, sondern zur Untermiete bei einem Greis und fünf Katzen.
Dank der Touristenströme fahren stündlich Busse – auch nach Akrotiri. Weit schöner als im berühmteren kretischen Knossos sind hier Ausgrabungen der 3.500 Jahre alten minoischen Hochkultur zu sehen. Diese hatten vor dem Vulkanausbruch die dann halb versunkene Insel verlassen: eine der Quellen des Atlantis-Mythos. Die Fresken und die kultischen Doppeläxte – die sich später die Lesben als Symbol aneigneten, obwohl das minoische Matriarchat nur eine Hypothese ist – sind allerdings alle in Athen im Museum.
Santorin ist eine Postkarte in 3D – aber die Schönheit der Insel wird aufgewogen durch die Besucherhorden. Nach spätestens fünf Tagen ist es an der Zeit, eine andere Art Insel zu suchen. Nachts um drei warten die Abreisenden in der einzigen offenen Hafentaverne mit vielen „Caf Hellenico“ – einer Art Espresso, der zwischen den Zähnen knirscht – auf die Überfahrt nach Naxos. Das Meer leckt böse über den Beton der Anlegestelle: Im Frühjahr und Herbst ist die Ägäis ein unruhiges Meer. Beim Anlegen der Fähre kratzt die Heckklappe kreischend über den Kai, und das Einsteigen muß noch ein bißchen schneller gehen als sonst.
Auf Naxos schwankt nach der stürmischen Nacht noch stundenlang der Boden. Post, Geldautomat, Zeitungen kaufen; dann legt auch schon die „Skopelitis“ ab, die endlich den deutschen Vorstellungen von einer griechischen Fähre entspricht. Ein Rosthaufen mit dem Deck nur einen Meter über dem Wasser – aber sie verschreckt, anders als die Großfähren, die Delphine nicht, über die sich die mitfahrenden Jungsoldaten am meisten freuen.
Koufonisi: die Kleine
Auf Koufonisi, einer von drei Inselchen in Sichtweite von Naxos, gibt es weder Bank noch Zeitungen, weder Kraterrand noch Ausgrabungen. Dafür kann man die 3,8 Quadratkilometer zu Fuß umrunden und hat dann immer noch Zeit, in einer winzigen Felsenbucht zu schnorcheln. Auf dem Anleger warten auch hier ein paar Bewohner, die „Rooms“ anbieten: das Doppelzimmer für 10 Mark liegt an der einzigen Straße des einzigen Dorfs, gegenüber der einzigen Taverne. Im Sommer allerdings haben viele Kneipen offen; die Ägäis ist überfischt, Tourismus auch hier die große Hoffnung.
Wer länger als zwei Tage bleibt und immer schön „Kalimera“ grüßt, wird von der Wirtin des Frühstückscafés – immerhin eines von zweien – schon als Stammgast behandelt. Und weil man mit Englisch hier nicht weiterkommt, gilt es die Aussprache von „Yaourti me meli“, „Joghurt mit Honig“ zu perfektionieren. Ein anderes Frühstück gibt es nämlich nicht. Falls man samstags schon wieder im „Kafenion“ lesend den Abend verbringt, bekommt man von frisch gescheitelten kleinen Jungs sogar Popcorn und von der aufgerüschten Wirtin winzige gegrillte Octopusarme geschenkt, während alle Einheimischen die Dorfstraße auf und ab paradieren.
Tinos, die Pilgerinsel
Im Viertelstundentakt laufen die Großfähren in den Hafen von Tinos ein – täglich auch mindestens eine von Naxos. Doch vor allem Griechen strömen an Land – denn die grüne, bergige Insel birgt mit dem Kirchenpalast der Panagia Evangelistra ein Heiligtum der Griechisch-Orthodoxen. 1823 hatte hier eine Nonne eine wunderwirkende Ikone gefunden, ganz passend, um im Befreiungskrieg der Griechen gegen die Türken ein kleines Stimmungstief zu überwinden. Am 25. März (Mariä Verkündigung) und um Ostern ist in Tinos-Stadt kein Zimmer mehr frei.
Tags zeugt vor allem die Basargasse von der Heiligkeit des Ortes: Weihrauch, Plastikflaschen für das heilige Wasser und Maria auf Kaffeetassen werden hier genauso angeboten wie Barbiepuppen für den revoltierenden Pilgernachwuchs. Abends strömt dann plötzlich alles in Richtung Kirche, die besonders Gläubigen rutschen auf Knien – zu deren Schonung eine 300-Meter- Teppichboden-Bahn am Rande der Hauptstraße verlegt ist. In der „Panagia“ knäulen sich die Menschen, betend und diskutierend, fast den Gesang der Popen übertönend. Weil alle die Ikone küssen wollen, ist die durch Glas vor ihren Verehrern geschützt, und alle fünf Küsse wischt ein Pope die Scheibe sauber.
Wer mit dem Bus die heilige Stadt verläßt, fühlt sich bald sehr fremd. Wegen einiger Marmorvorkommen sind die Bergdörfer hier durchaus nicht arm, und buchstäblich an keinem Haus klebt ein Schild „Rooms“. In Pyrgos, zwischen die Berge ins Inselinnere geklemmt, zeigt sich die asiatische Honighändlerin ratlos: Hier macht man einfach keine Ferien. Eine zufällig vorbeikommende alte Frau vermietet dann doch gleich das ganze Obergeschoß ihres Hauses, inklusive Plastikjesus und Fotoalbum. Im „Kafenion“ spielen unter einer riesigen Platane die alten Männer Backgammon, nachdem die wenigen Tagestouristen gegangen sind; außer „Greek salad“ und Eselswurst gibt es hier allerdings auch nichts zu essen.
Ganz zum Schluß: Athen
Alle Fähren fahren nach Athen – und weil nicht immer sicher ist, wann genau sie fahren, sollten ein paar Tage in der griechischen Hauptstadt auch als Puffer vor dem Abflug eingeplant werden. Im Archäologischen Museum reicht ein Tag kaum aus, um gemeinsam mit Dutzenden griechischer Schulklassen das auf den Inseln seltene klassische Erbe und vor allem auch die prähistorische Kunst der Kykladen zu besichtigen.
Zwar verläuft man sich in Athen leichter als auf Koufonisi, aber dafür gibt es auch mehr Zimmer als in Pyrgos. Und die Riesenstadt Athen läßt sich jedenfalls durch das bißchen Touristentrubel rund um die Akropolis nicht stören.
Bester Reiseführer auf dem Markt ist ein australischer, aus der Reihe „Lonely Planet“: David Willett u.a.: „Greece“ (2. Aufl. 1996). Ersatzweise „Kykladen“ von Eberhard Fohrer aus dem Michael Müller- Verlag.
Der Flug von Deutschland kostet 400 bis 700 Mark; für Studierende und Jugendliche sind Linienflüge billiger. Zwar gibt es auf mehreren Inseln Flughäfen, Athen ist aber das billigste und zentralste Ziel. Die Anreise per Bahn und Schiff über Italien ist deutlich teurer und dauert etwa zwei Tage.
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