Alternativen zum Massentourismus: Freizeitpark im Umbruch
Kann die Coronakrise ein Anlass sein, dem Tourismus endlich Zügel anzulegen? Das Beispiel Amsterdam zeigt, welche Probleme neue Ansätze haben.
D er Notruf erscheint um Viertel vor elf am Abend. „Kommen Sie nicht auf die Wallen. Es ist zu voll dort“, heißt es auf dem Twitter-Account der Kommune. Danach folgt die Information, dass einige Straßen des weltberühmten Rotlichtviertels – die „Wallen“ – wegen des Andrangs geschlossen werden, dazu ein „Einfahrt verboten“-Schild. Drastische Worte, eindringliche Symbolik. Aber wenn jemand die Reißleine zieht, geht es nicht mehr um Behutsamkeit. In Amsterdam sieht man sich an diesem warmen Samstag, dem 18. Juli 2020, dazu genötigt.
Drei Stunden zuvor zeichnet sich dieser Schritt schon ab. Die Tauben des Dam-Platzes freuen sich, dass die Touristen sie wieder füttern. Auf der überlaufenen Brücke der Hoogstraat, die ins Rotlichtviertel führt, ist Selfie- Zeit, was das Durchkommen erschwert. Wovon auf dem Oudezijds Achterburgwal kaum noch die Rede sein kann. Die Nacht verspricht eine der ersten sommerlichen Nächte zu werden, seit die Prostituierten nach dem Lockdown wieder an die Arbeit gingen. Träge schiebt sich der Strom der Schaulustigen an ihren Fenstern vorbei, auf einer Seite der Gracht hin, auf der anderen zurück. Man ahnt: Das mit dem Abstandhalten wird schwierig.
An den Brücken und Abzweigungen stehen Leute von der Stadtverwaltung in leuchtend roten oder neongelben Jacken, die die Menge im Blick behalten. Gunnar Smit ist ihr Koordinator, eine Respekt einflößende Gestalt mit Wikingerbart. „Guys, this is a one way road“, weist er Passanten auf die Vorsichtsmaßnahme hin. Ruhig erklärt er einem jungen Franzosen, dass Bier trinken auf der Straße verboten ist. Wie die Lage ist? „Bisher läuft alles nach Plan. Aber noch sind die Leute beim Essen. Danach wird es richtig voll. Wenn der Anderthalb-Meter-Abstand nicht mehr eingehalten werden kann, werden wir eingreifen. Es darf nicht wieder werden wie letztes Jahr!“
„Wie letztes Jahr“: das ist die große Furcht der meisten Amsterdamer. Das pittoreske Zentrum gilt wie Barcelona oder Venedig als eines der eklatantesten Beispiele des Phänomens Overtourism. 2012 hatte die Stadt erstmals über 10 Millionen Hotelübernachtungen, 2019 schon über 18 Millionen. Berechnungen von 2018 waren für 2030 von 32 Millionen ausgegangen. Der Pandemie-Ausbruch brachte im Frühjahr den gesamten Sektor zum Erliegen und machte aus der Innenstadt ein Standbild epochaler Leere. Insofern bezieht sich „wie letztes Jahr“ auch immer auf die Prä-Corona-Ära.
Petition für Übernachtungsgrenze
Im Juli 2020 ist die Stadt seit einigen Wochen aus dem Lockdown erwacht. Die Touristen sind zurück, erst zaghaft, nun immer mehr. „Der Freizeitpark hat wieder geöffnet“, zitiert die Lokalzeitung Het Parool nach besagtem Wochenende Tiers Bakker, einen sozialistischen Stadtrat. Aber auch die Infektionszahlen steigen wieder deutlich. Ein explosives Gemisch. Die Angst vor der Pandemie verband sich in den letzten Monaten mit dem Wunsch, den Besucherstrom einzudämmen. Nun, da er wieder anschwillt, ist das Virus zum Akzelerator des Unmuts geworden: Eine Petition für eine jährliche Übernachtungsgrenze von 12 Millionen wurde in kurzer Zeit 30.000-mal unterschrieben.
Nicht nur die Bewohner fordern einen Umschwung. Im Mai richtet Bürgermeisterin Femke Halsema einen Brief an den Stadrat. Die Straßen im Zentrum strahlen in dieser Zeit surreale Verlassenheit aus. Der Kontrast zum sonst üblichen Andrang zeigt, wie sehr sich der Rest der Stadt von diesem Gebiet entfremdet hat. Unter dem Eindruck der Krise will Halsema das touristische Angebot beschränken. Sie beschwört die „Dringlichkeit, über die Innenstadt der Zukunft nachzudenken“, fordert Diversität statt „Einheitswurst der auf schnellen Konsum gerichteten Läden“ und zugänglichen Wohnraum statt dauervermieteter Urlaubsapartments.
Wie aber stellt man sich das vor im Stadthaus an der Amstel? Mascha ten Bruggencate, als Vorsitzende des Stadtteils Centrum eine Art Bezirksbürgermeisterin, empfängt hoch über den Dächern der Stadt. Ihre Analyse: In der Coronakrise sei sichtbar geworden, wie abhängig das Gebiet vom ständigen Touristenstrom sei und wie stark das die Situation derer, die noch hier wohnten, beeinträchtige: „In außerhalb gelegenen Wohnvierteln sah man trotz Abstandhaltens sozialen Zusammenhalt und Leben auf den Straßen. Die Leute bestellten Essen bei den Restaurants dort, um sie zu unterstützen. Im Zentrum dagegen: gähnende Leere!“
Mascha ten Bruggencate hat sich vorgenommen, das Zentrum wieder lebenswert zu machen. Zur Seite steht ihr der Projektmanager Michiel Thunnissen. Beide wollen der „Monokultur“ zu Leibe rücken, deren Symptome sie auf einem Spaziergang in der Umgebung zeigen: Bommelmützen mit „Amsterdam“-Schriftzug, die den alten Flohmarkt auf dem Waterlooplein überfluten. Sogenannte Nutella-Läden mit Schokopfannkuchen zum Fressflash. „Oder dort hinten, dieses ATM- Schild.“ Thunnissen weist die Hoogstraat hinunter, die den Dam und das Rotlichtviertel verbindet. „Einer dieser Geldautomaten, die immer ein paar Euro extra kosten.“
Mascha ten Bruggencate
Zwecks Symptombekämpfung hat man etwa im Rotlichtviertel Schilder aufgestellt, die mit Bußgeldern für das Alkoholtrinken oder Urinieren auf der Straße drohen. Strategisch soll der Flächennutzungsplan helfen. Und Immobilien: einige besitzt die Gemeinde selbst, andere könnte sie aufkaufen, um Nutzung und Charakter desViertels zu steuern. Doch Thunnissen weiß auch: „Es gibt keinen Katalog mit schnellen Maßnahmen. Darum brauchen wir breite Unterstützung von Unternehmern und Politik.“
Mascha ten Bruggencate ergänzt: „Man kann nach Corona nicht neu beginnen. Wir können uns nicht wie an einem Legotisch eine neue Stadt bauen. Es gibt eine bestehende Stadt, von der wir ausgehen müssen.“ Die Zeit jedenfalls drängt, findet die Stadtteilvorsitzende. Je näher der Sommer rückt, desto mehr füllen sich die Straßen wieder. „Wenn ich jetzt die ersten Leute hier rumziehen sehe mit diesem suchenden Blick, „Wo sind die Prostituierten, und wo die Coffeeshops?“, ist mir klar, dass wir uns an die Arbeit machen müssen.“
Schreien, pissen, kotzen
Von solcher Dringlichkeit muss man Edwin Schölvinck nicht erst überzeugen. In der schmalen Gasse im Rotlichtviertel, wo der selbstständige Rechtsberater seit den neunziger Jahren wohnt, stauten sich bis zur Coronakrise die Besucher: „Es ist, als seien sie nicht mehr sie selbst, sobald sie in dieses Quartier kommen. Sie schreien, pissen, kotzen – ganz so, als hätten wir, die hier wohnen oder arbeiten, nur darauf gewartet. Jeden Freitag- und Samstagabend kamst du dir wie ein Fremder in deiner eigenen Nachbarschaft vor. Und dann der Abfall von all dem Fastfood!“
Der Lockdown war für Schölvinck eine lange ersehnte Atempause. Insofern sieht er es mit gemischten Gefühlen, dass Mitte Juni vieles in seinem Viertel wieder eher an Sommer denken lässt als an Corona. An einem Freitagnachmittag sitzt er im Nachbarschaftszentrum bei der Oude Kerk. Durch die offene Tür hört man Lachen und Gesprächsfetzene auf Französisch, Englisch und Deutsch. An internationale Besucher richtet sich auch die Aufschrift auf den Tür-flügeln: „You may be surprised to learn that the Red Light District is primarily a residential area. Come and meet the locals.“
Edwin Schölvinck, 56, ist einer der locals, die man hier treffen kann. Sein Hund Jorge döst unter dem Tisch, darauf liegt Informationsmaterial über das Rotlichtviertel, seine knapp 4.000 Bewohner und die Initiative „We Live Here“, die vor zwei Jahren in Zusammenarbeit mit der Kommune gegründet wurde. Entlang der Wände ziehen sich die Porträtfotos, die auch an den Mauern des Viertels auftauchen: Fotos von Erwachsenen und Kindern, Paaren, Singles, Familien und Haustieren, versehen mit der Aufschrift „We Live Here“. Eine Begrenzung der Besucherzahl hält auch Schölvinck für unerlässlich. „Das ist ein klares Ziel, auf das man hinarbeiten kann. Dann ließe sich abschätzen, wie viele Hotels oder Cafés man dafür benötigt, und die Politik darauf abstimmen.“
Nachhaltige Walking Tours in der Innenstadt
Am späten Nachmittag klopft bei „We Live Here“ die Zukunft an. Oder besser: Sie läuft durch die offene Tür einfach hinein. Berber Hidma, die jahrelang selbst für einen großen Akteur Besuchergruppen durch die Innenstadt führte, hat sich ein neues Konzept ausgedacht: Mit zwei Kolleginnen bietet sie eigens gestaltete Walking Tours an, die nachhaltig sind, Rücksicht auf lokale Strukturen nehmen und für soziale Gegebenheiten sensibilisieren. „Die meisten Touristen kommen nicht, um ein Ärgernis zu sein. Im Gegenteil, sie wollen gern einen Beitrag zur positiven Entwicklung leisten“, so ihr Fazit aus sieben Jahren an der Basis.
„Tours That Matter“ heißt ihr frisch gegründeter Betrieb, der sich als Teil der Reinvent-tourism-Bewegung versteht. Eine große Portion Idealismus spielt da mit, wenn Tourismus als positive statt als destruktive Kraft genutzt werden soll. Im Fall von „Tours That Matter“ bedeutet das auch: „Kein Start-up-Modell, das auf Investoren basiert. Kein green capitalism, keine invasive Struktur!“ Thematisch geht es um Kolonialismus und Fair Trade, Prostitution, urbane Landwirtschaft oder Gentrifizierung. Eigentlich sollte es im April losgehen, doch dann kam Corona. Berber Hidma bereitet nun den Start vor. Die Suche nach infrage kommenden Partnern führt sie an diesem Nachmittag zu „We Live Here“.
Am nächsten Tag schickt Edwin Schölvinck noch einige Fotos aus seiner Straße. Es sieht schon wieder aus wie ein klassischer Morgen danach auf den „Wallen“: ein Lieferwagen vor einem Hotel; die Filiale der Trash- Food-Kette FEBO an der Ecke; pralle Müllsäcke auf dem Trottoir, an denen sich Möwen gütlich tun. Je weiter der Sommer fortschreitet, desto pessimistischer klingt Schölvinck. „Der Geist ist aus der Flasche, das lässt sich nicht mehr zurückdrehen“, kommentiert er Mitte Juli. „Die Behörden haben keine Kontrolle.“ Ende Juli berichtet er, Abstand halten sei unmöglich geworden. Gerade abends versuche er, so schnell es geht, nach Hause oder aus dem Viertel zu kommen. „Das beschränkt meine Freiheit in der Stadt.“
Berber Hidma ist unterdessen startklar für die Touren, die im August beginnen sollen. Kurz zuvor zeigt sie in Amsterdam Noord, auf der anderen Seite des Flusses Ij, wie dieser neue, bewusste Tourismus aussehen soll. „Crisis as a point of opportunity“ ist der Titel der zweistündigen Wanderung. Sie führt um das ehemalige Werftgelände, wo einst riesige Schiffe gebaut wurden. Der Bankrott in den späten 1970ern führte zu massenhaften Entlassungen, und die Arbeitersiedlungen der umliegenden Gartenstädte verkümmerten. Die Hafenstadt Amsterdam erlebte in den 1980ern Wohnungsnot und soziale Misere. Rund um die Werft aber entstand danach ein Freiraum für die Künstler und Hausbesetzer der Stadt.
Weltkriegsmunition vor der Küste
Es ist dieser Frau anzumerken, dass sie einst eine Theaterschule absolvierte und ihr dieser Auftritt Spaß macht. Unterwegs trifft man pensionierte Marineangehörige, die ein Minensuchboot renovieren, und erfährt Details über Weltkriegsmunition, die vor der niederländischen Küste versenkt wurde. Man besucht den nachhaltigen Hafen „Kap der Grünen Hoffnung “ und eine Street-Art-Ausstellung zur Coronakrise. Dazu gibt es die Geschichte der Amsterdamer Hausbesetzungen, denn Berber Hidma hat selbst “gekraakt“.
Unterdessen wird klar, dass auch „auf NDSM“ die Zeit nicht stehen geblieben ist. Neben einigen Unterkünften auf dem Wasser ist ein Hilton-Hotel entstanden, und zwischen den Nischen dieses urbanen Freiraums ziehen Rollkoffer hin und her. Zwei werden soeben von jungen Männern mit Gesichtsmaske aus einem Taxi gehoben. Potenzielle Kunden, findet Hidma: Obwohl ihre Touren in erster Linie gesellschaftlich bewusste Kunden ansprechen, sollen sie allen zugänglich werden. „Sonst predigst du den Bekehrten. Das ist nicht interessant.“
Es ist einiges im Umbruch im Freizeitpark Amsterdam. Ein komplexes Geflecht hat sich entwickelt zwischen Tourismus, seiner Regulierung und unterschiedlich dosierten Maßnahmen gegen das Virus. Nach dem Sommer wird sich der Stadtrat mit der Petition beschäftigen, die eine Höchstgrenze der Übernachtungen fordert und genug Stimmen hat für ein Referendum.
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