Alternativen zu Tierversuchen: „Gesamtmenge Leiden verringern“
Bundesweit werden über drei Millionen Tiere pro Jahr für Tierversuche verwendet. Viele der Tests sind unnötig und qualvoll – es gibt sinnvolle Alternativen.
KONSTANZ dpa | Wenn Marcel Leist über seine Kollegen in den USA spricht, meint man fast, so etwas wie Neid herauszuhören. „Dort forschen sie an sogenannten Organs on a chip, also Organen im Miniformat“, sagt der Toxikologe, der Deutschlands einzigen Lehrstuhl für Alternativen zu Tierversuchen innehat. An der Universität Konstanz am Bodensee untersucht Leist mit seinem Team, wie man Tests an Tieren vermeiden oder sie zumindest möglichst schmerz- und stressfrei vornehmen kann. „Wir wollen die Gesamtmenge Leiden verringern.“
Daher auch der neidvolle Blick in die USA: Denn dort wurden laut Leist entsprechende Forschungen im vergangenen Jahr mit 200 Millionen Dollar (knapp 150 Millionen Euro) gefördert. Zum Vergleich: Die EU stellte rund 150 Millionen Euro bereit – in den vergangenen 15 Jahren. US-Wissenschaftler hätten an der Universität Harvard beispielsweise eine Art Mini-Lunge hergestellt, die atmen kann, sagt Leist. Das Ziel: mehrere dieser Organe – beispielsweise Leber, Niere, Herz, Lunge – miteinander zu verbinden, um für Tests eine Art „Menschen auf dem Chip“ zu erhalten.
Aber auch in Europa gibt es bereits einige Alternativen zu Tierversuchen – beispielsweise In-Vitro-Verfahren, bei denen Substanzen an menschlichen oder tierischen Zellen getestet werden. Leist, der auch das 2010 gegründete Zentrum für Alternativen zum Tierversuch in Europa (CAAT-Europe) leitet, entwickelt ebenfalls tierversuchsfreie Testverfahren, um Chemikalien auf ihre Schädlichkeit für das Nervensystem zu untersuchen. Doch soweit, ganz auf Tierversuche zu verzichten, sei man noch lange nicht, sagt der Toxikologe. „Was in 100 oder 200 Jahren ist, weiß man nicht. Aber in den nächsten 20 Jahren sind sie noch absolut unverzichtbar.“
Allein in Baden-Württemberg wurden 2012 mehr als 544.000 Wirbeltiere in Tierversuchen verwendet oder für wissenschaftliche Zwecke getötet. Bundesweit waren es 2012 knapp 3,1 Millionen Tiere, wie aus einer Statistik des Bundesagrarministeriums hervorgeht. Darunter waren mehr als 2,2 Millionen Mäuse, außerdem 418.000 Ratten, 166.000 Fische und 97.000 Kaninchen.
Tierschützer, aber auch manche Wissenschaftler, halten Tests an Tieren unter anderem aus ethischen Gründen für nicht vertretbar. „Das Quälen und leidvolle Töten von Tieren ist moralisch verwerflich“, heißt es beispielsweise beim Verein „Ärzte gegen Tierversuche“. Die Tiere würden dabei zu Messinstrumenten degradiert, die nach Gebrauch weggeworfen würden.
Problem der Übertragbarkeit
Auch aus medizinischen Gründen müsse man die Tests ablehnen: „Die Krankheiten des Menschen können durch Tierexperimente weder in ihren wirklichen Ursachen erforscht noch geheilt werden“, schreiben die Mediziner in ihrer Grundsatzerklärung. Außerdem könnten die Ergebnisse nicht mit der nötigen Sicherheit auf Menschen übertragen werden. „In jedem Fall muss der gleiche Versuch mit einem unkalkulierbaren Risiko am Menschen wiederholt werden. Vorher ist jede übertragende Aussage Spekulation.“
Ähnlich argumentiert Leist – auch, wenn er mit Verantwortlichen in der Industrie spricht: „Auf der ethischen Schiene erreichen wir da nicht viel“, sagt er. „Wir sagen klar: Es geht um Geld. Um billigere, schnellere und vor allem aussagekräftigere Daten.“
Er sei zwar nicht grundsätzlich gegen Tierversuche. Ihn störe aber die „rein materialistische Betrachtung“. Bei vielen Tierversuchen – beispielsweise in der Grundlagenforschung – müsse man sich überlegen: Kann ich meine Neugierde auch anders befriedigen? „Es geht um die Frage, inwieweit es erlaubt ist, den menschlichen Spieltrieb auf Kosten von Tieren auszuleben.“
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