: Als die Literatur das Fernsehen nicht mehr fürchtete
Der Musiker und Romancier Thomas Nagelschmidt im Selbstversuch: Elf Tage „The Sopranos“ auf Gran Canaria
Von Matthias Kalle
Während Tony Soprano in der Praxis von Dr. Melfi sitzt und über seine Panikattacken spricht, über Enten, die davonfliegen und über Depressionen, die nicht zu seinem Job als Mafiaboss passen, sitzt Thorsten Nagelschmidt in einem All-inclusive-Hotel auf Gran Canaria, hat einen DVD-Player auf sein Zimmer geschleppt und schaut zu, wie Tony Soprano in der Praxis von Dr. Melfi sitzt und über seine Panikattacken spricht. Das ist im Grunde genommen das, was in dem Buch „Nur für Mitglieder“ von Thorsten Nagelschmidt passiert.
Der Ich-Erzähler des Romans will raus. Raus aus Berlin, raus aus dem Winter, raus aus dem Stimmungstief, das ihn seit Jahren pünktlich zu Weihnachten überfällt. Seit zwei Jahrzehnten meidet Nagelschmidt die Feiertage mit der Familie, ersetzte Kerzenschein durch Clubs, Alkohol und Ablenkung – allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Also beschließt er, sich selbst zu überraschen: kein Exzess, sondern ein Experiment. Elf Tage auf Gran Canaria, in einem Hotel, das er nie verlässt. Und während draußen Pauschaltouristen am Pool dösen, absolviert er drinnen seinen Serienmarathon: alle sieben Staffeln der Sopranos, acht Stunden täglich, 86 Stunden insgesamt. Das Buch ist das Protokoll dieser Unternehmung – Reportage, Selbstversuch und Essay zugleich. Es folgt der Chronologie dieser elf Tage, beobachtet sich selbst beim Beobachten – ein Serien-Tagebuch über das eigene Leben.
Man kann dieses Projekt für eine Schnapsidee halten. Aber „Nur für Mitglieder“ ist, zumindest für den deutschen Literaturbetrieb, eine kleine Sensation. Denn Nagelschmidt nimmt das Fernsehen nicht als Ornament, nicht als ironische Pop-Anspielung, sondern als Substanz. Die Serie „The Sopranos“ ist kein Beiwerk – sie ist das Buch.
Dabei ist das Schreiben über Fernsehen natürlich streng genommen nichts Neues. Rainald Goetz hat in „Abfall für alle“ das Talkshow- und Nachrichtenrauschen der Neunziger ins Literaturtagebuch montiert, und Thomas Meinecke machte in seinen Collage-Romanen Diskurse und Popzitate – inklusive Serien – zum Material. Doch bei all dem blieb das Fernsehen stets Zitat, Marker, Kulisse, war aber nie das Herzstück. US-amerikanische Schriftsteller waren da längst weiter: David Foster Wallace schrieb in seinem Essay „E Unibus Pluram“ über die Sitcom-Ironie der Neunziger und modellierte in „Infinite Jest“ eine seriell-episodische Struktur, die selbst wie eine gigantische Staffel wirkt. Jennifer Egan baute „A Visit from the Goon Squad“ wie eine Staffel mit Episoden (und gab „The Sopranos“ als Inspirationsquelle an). Und Don DeLillo setzte in „White Noise“ den Fernseher als Soundtrack der amerikanischen Psyche ein.
Thorsten Nagelschmidt ist kein Theoretiker des Fernsehens. Er ist Ex-Punk, Musiker, Romancier, ein Sammler von Szenen. Seine Bücher waren immer näher an der Reportage und der Selbstreflexion als an der großen Fiktion: „Der Abfall der Herzen“ (2018) als Rückblick auf Jugend und Freundschaft, „Arbeit“ (2020) als Stimmenpanorama der Berliner Nachtwirtschaft. Er schreibt präzise, fast protokollarisch, mit einem Sensorium für Milieus und Routinen.
Thorsten Nagelschmidt: „Nur für Mitglieder“. März Verlag, Berlin 2025.
236 Seiten, 24 Euro
In „Nur für Mitglieder“ treibt er diese Methode auf die Spitze. Das Buch ist kein Roman, sondern ein Tagebuchversuch: 11 Tage, 86 Stunden „The Sopranos“, flankiert von All-inclusive-Buffets, Bändchen-Hierarchien und Zigarettenpausen. „The Sopranos“ sind der Spiegel, in dem Nagelschmidt seine Depression, seine Weihnachtsflucht, seine familiären Abbrüche betrachtet. Tony Sopranos Sitzungen bei Dr. Melfi reflektieren seine Unfähigkeit, sich selbst zu therapieren. Livia Sopranos Giftigkeit erinnert ihn an die Feste, denen er zu entkommen versucht. Die Parallelen sind deutlich, manchmal etwas zu ausbuchstabiert, aber sie funktionieren – weil die Serie selbst längst auf dem Niveau des Romans operiert: als Tragödie, als Gesellschaftsstudie, als epische Erzählung.
Als „The Sopranos“ 1999 auf HBO begann, war das Fernsehen noch ein anderes. Serien erzählten linear, suchten Auflösung und boten Helden. Dann kam Tony Soprano – ein Mafiaboss zwischen Macht und Zusammenbruch. In dieser Figur verschmolzen Krimi, Psychogramm und Familiengeschichte zu etwas radikal Neuem. Zum ersten Mal fühlte sich eine Serie an wie ein Roman, der atmet – mit Kapiteln, die sich Zeit nehmen, mit Nebenfiguren, die Leben entwickeln, mit Symbolen, die wiederkehren. „The Sopranos“ sprach nicht nur über Gewalt und Schuld, sondern über Erinnerung, Identität, Begehren. In ihren besten Momenten war diese Serie der erzählenden Literatur mindestens ebenbürtig – vielleicht sogar überlegen.
So entstand das moderne Erzählen im Fernsehen – gebrochen, ambivalent, bildstark. Ohne „The Sopranos“ gäbe es kein „Mad Men“, kein „Breaking Bad“, kein „Succession“. Diese Serie war der Urknall des Prestige-TV, der Moment, in dem das Medium erwachsen wurde. Und vielleicht auch der, in dem das Fernsehen für einen Augenblick mehr Wahrheit über den Menschen erzählte, als die Literatur je konnte.
Und Nagelschmidt wählt ausgerechnet dieses Werk als Spiegel – und damit einen Gegner, gegen den kaum ein Roman gewinnen kann. Sein Buch hat nicht die Ambivalenz, nicht die existenzielle Schwere, mit der „The Sopranos“ seine Figuren umkreist. Und doch liegt in dieser Überforderung etwas Rührendes. Vielleicht ist das der ehrlichste Impuls des Romans – der Versuch, sich an einer Größe zu messen, an der man scheitern muss.
Die Schwächen sind offensichtlich: Nagelschmidt reflektiert gerne und viel, zitiert Bourdieu, Wallace, Diederichsen – nicht immer elegant, manchmal eher wie ein Seminarprotokoll. Und ja, die Beobachtung des Hotelbuffets trägt nicht über Seiten. „Nur für Mitglieder“ ist damit weniger literarisches Meisterwerk als literarisches Symptom. Es markiert den Moment, in dem ein deutscher Autor Fernsehen nicht mehr als Fremdkörper behandelt, sondern als strukturbildendes Element seiner Erzählung. Nagelschmidt ist kein Wallace, keine Egan, kein DeLillo. Aber er macht im deutschen Kontext etwas Seltenes: Er lässt die Literatur das Fernsehen nicht mehr fürchten.
Und vielleicht wird man in ein paar Jahren sagen, dass damals, als ein deutscher Schriftsteller sich in ein Hotelzimmer einsperrte, um „The Sopranos“ zu gucken, die deutsche Gegenwartsliteratur begann, den Bildschirm nicht mehr als Konkurrenz zu begreifen – sondern als gleichberechtigte Kunstform, die manchmal, wie in diesem Fall, dem Roman heillos überlegen ist.
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