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Als das Bächel tollwütig wurde

Zwei Dutzend Leute schleppen Steine aus dem Flussbett, das eine Straße war, und waschen Hausrat

aus Pirna und Dohna THOMAS GERLACH

Nein, ausgeschlafen wirkt Dieter Förster nicht. Mit freiem Oberkörper und in Shorts macht er sich an seinem Garagentor zu schaffen. Das hat nur ein paar Beulen, sonst nichts. Doch was nutzt ein Tor, wenn es die Garage nicht mehr gibt? Wo bis vor einer Woche das Auto stand, ist heute nur frische Luft und gurgelndes Wasser. Blickt Förster in seine Garage, sieht er, wie die Nachbarn von gegenüber Möbel auf die Straße werfen, und zu seinen Füßen schäumt das Wasser. Diese Nacht hat Dieter Förster zum ersten Mal wieder in seinem Haus verbracht. Seit vergangenem Montag schlief die Familie oben am Schloss bei Nachbarn – seit jener Stunde, als die Seidewitz, das „Bächel“, wie sie hier sagen, zu einem rasenden Lindwurm anschwoll und in Zuschendorf, einem Ortsteil der sächsischen Stadt Pirna, seine Spur hinterließ.

Heute ist Heimkehr, die Förster’sche Hollywoodschaukel steht wieder auf ihrem Platz, die Pergola auch, nur das Auto bleibt auf der Straße. Gott sei Dank ist das Obergeschoss trocken geblieben. Nein, er habe nicht gut geschlafen, sagt Förster und geht wieder zur „Garage“. Ausgerechnet in dieser Nacht gab es Gewitter. „Da schläft man doch nicht!“, sagt er. Nicht mehr, obwohl das Dach frisch gedeckt ist und die Steine karminrot leuchten. Das Bächel nagt von unten. Gegen Wasser von oben gibt es Dächer und Rinnen, gegen Wasser von unten gibt es nichts.

Was heißt hier Wasser? Es geht nicht um Nässe, Kurzschluss oder Schimmelbildung. Es geht um eine Macht, die alle Vorstellungen im Tal übersteigt, die sich nicht um Grundbücher, Kredite und Hypotheken schert, mit denen Häuser und Grundstücke belastet sind wie überall in Deutschland. Eine Kraft, die Vorwarnungen, Sandsäcke und Staustufen ignoriert und die sich nicht mehr an ihr glattes Bett aus Beton hält. Das Bächel, jahrzehntelang gezähmt und lammfromm, ist tollwütig geworden. Nun traut sich keiner mehr heran.

Dieter Försters Sohn fährt mit einer Karre Schwemmerde aus dem Garten. Oben auf der Straße steht die Quartiergeberin vom Schloss, redet und redet, will gehen, bleibt doch und barmt, gräbt in Erinnerungen und wirkt, als schäme sie sich, so glimpflich davongekommen zu sein. „Die Leute haben doch noch am Sonntag in ihren Gärten gesessen und gegrillt!“, ruft sie, schüttelt den Kopf und presst die Faust an ihre Brust. Deutsche Gemütlichkeit: Bier in der Flasche, Fleisch auf dem Grill, unten plätscherte das Bächel – es ist eine Episode aus einer Zeit, da Katastrophen nur über ferne Länder hereinbrachen und am Abend in der Tageschau ihren Widerhall fanden.

Wenn überhaupt. Vorletzte Woche schwammen an der russischen Schwarzmeerküste Autos im Meer herum. 24 Stunden nach dem Grillabend flimmerten Bilder aus Sachsen europaweit über die Bildschirme, auf denen Karossen, Gasflaschen und Container wie Papierschiffchen ins Tal schossen. „Das ging doch alles so schnell!“ Sie presst die Faust gegen die Brust. „Und mit welcher Kraft! Ganze Mauern wurden mitgerissen! Massive Häuser! Hochwasser gab es 1927 und 1957, aber das hier, das war doch …“

Sie schüttelt den Kopf: „Das ist doch eine Sintflut gewesen! Und was es dann noch alles für Gerüchte gab!“ Die Mauer des Rückhaltebeckens sei geborsten, behaupteten welche. Und das alles tagelang ohne Telefon, Radio, Fernsehen, Zeitung. Keine Ratgeber-, keine Experten-, keine Politikerinterviews – das Bächel hat die Informationsgesellschaft fortgespült.

Jetzt macht sich jeder selbst seinen Reim: Man hätte die Menschen zeitiger warnen müssen, sagen die einen, gegen eine Sintflut sei kein Kraut gewachsen, sagen die anderen, und 1927 sei alles noch viel, viel schlimmer gewesen, beharren wieder andere. „Vor 400 Jahren war sogar der Hang oben am Schloss ins Rutschen geraten“, sagt die Quartiergeberin und öffnet die Faust, in der es metallisch glänzt. Wie einen Schatz trägt sie ihr Schlüsselbund bei sich. Wohl dem, der eine Zuflucht hat.

Sintflut – wo Erfahrung und Historie keinen Vergleich bieten, sucht man beim Mythos: Die einen denken da an die Bibel, andere an Titanic. Dieter Förster kommt aus dem Haus, werkelt weiter, buschige Brauen, hoffnungsvolle Augen, ein besonnener Geselle. Und doch repariert er ein Tor, das statt des Familienautos nur noch den Fluss bewacht. Vielleicht hat das ja tatsächlich Sinn, vielleicht ist es nur eine Symbolhandlung. „Es geht irgendwie weiter“, sagt er, zuckt mit den Schultern. „Muss ja!“ Vor Försters Haus hat die Straße nichts abbekommen, sie ist sowieso nicht die beste. Sie sollte im September erneuert werden, erzählt er. „Und die Stadtverwaltung hat jetzt gesagt, die Straße wird planmäßig erneuert!“ Realistisch ist das nicht. Förster lacht kurz auf und geht zur Garage. Der Mann repariert ein Tor, die Verwaltung beharrt auf Plänen – die alte Ordnung wirkt fort wie ein Reflex.

Die Frau mit dem Schlüsselbund ist nun doch gegangen. Auch Elisabeth Franke hat einen Schlüssel, nur eine Zuflucht hat sie nicht mehr. Hier hat sich das Bächel mehr genommen als eine Garage. Elisabeth Franke hatte ein schönes Haus, solide gebaut mit Mansardendach. Die Flut hat zuerst die Brücke, dann das Fundament weggeleckt wie Kandis, einfach aufgelöst, wie sich das Leben aufgelöst hat. Oder doch zumindest der Glaube an die Sicherheit darin.

Nun steht Elisabeth Franke mit ihrem Sohn am Ufer und sieht mit an, wie Fremde mit Fingern in ihr Schlafzimmer deuten, man kann auf das Bett schauen und auch darunter. Man kann wie in einer Puppenstube in das Bad blicken und in das Wohnzimmer mit Sessel und Fernseher. Elisabeth Franke trägt Rock und rotes Hemd und steht doch entblößt vor allen Leuten, von denen manche fotografieren. Dagegen rebelliert sie kurz: Wenn schon obszöne Bilder, will sie wenigstens Geld in ihrer Not.

Aber gegen das Rauschen des Wassers wirkt sie stumm. Da, wo sie ihr Leben verbracht hat, kriecht Moder hervor. Von oben scheint wieder die Sonne und kitzelt im ganzen Tal die Fäulnis aus Mauern, Dielen und Möbeln. Doch hier bei dem Kadaver aus Holz und Stein stinkt es noch mehr. Müllcontainer riechen so. Diese Kränkung ist eigentlich zu groß. Vielleicht wäre es besser, Elisabeth Franke ins Krankenhaus zu bringen. Aber in welches? Das Elbtal wird gerade evakuiert.

Mit einer seltsamen Energie blickt Elisabeth Franke auf das Haus. „Seit 1928 ist es in unserem Besitz“, murmelt sie. Ihr Sohn, der Christian, der „Elektro-Franke“, hat noch auf die Uhr geschaut, als die Flut kam. „Am Montag um 16 Uhr war die Brücke letztmalig passierbar“, sagt er wie ein Protokollführer. Normalerweise rechne man hier nach drei Tagen Dauerregen mit Hochwasser, sagt er. „Diesmal hat es keine 16 Stunden gedauert.“ Und am Anfang sei eher weniger Wasser gekommen. Die Brücke führte von der Straße am Haus vorbei zu seiner Firma. Als sie fortgespült war, stand das Haus ohne Schutz da.

Videokameras werden geschwenkt, die Privatsphäre von gestern ist das Heimkino von morgen

Zuerst leckten die Wasser an der Kellertür, dann am Gewölbe, und dann rutschten die oberen Geschosse einfach nach. Da wo das halbe Haus stand, fließt nun ein Gewässer zweiter Ordnung. Elektro-Franke scheint gewillt, das Haus wieder aufzubauen. Als ob sie Bußgewänder angelegt hätten, leuchtet sein T-Shirt in der gleichen Farbe wie das Hemd der Mutter. Geld vom Staat werde es wohl kaum geben, vermutet er. „Bei den Schäden überall!“ Ein Mann geht auf die beiden Rotgekleideten zu. „Guten Tag, ich bin Pfarrer Rau aus Pirna, ist das Ihr Haus?“ Elisabeth Franke nickt. Der Pfarrer legt den Arm um sie.

Ein alter Mann kommt mit Stock und Hut den Weg vom Schloss heruntergetrippelt. „Den sechsten Tag ohne Strom!“, ruft er. Er trippelt zum Bächel und kräht seine Botschaft, wieder und wieder. „Was wollt ihr hier?“, ruft er plötzlich. Unten auf der Straße stehen die Autos geparkt, neugierig schauen Menschen auf die Häuser: auf das von Frankes und auf das Nachbarhaus, das auch nur noch zur Hälfte dasteht.

Videokameras werden geschwenkt, Blitze zucken aus Fotoapparaten. Die Distanz ist verschwunden – die Privatsphäre von gestern ist das Heimkino von morgen. Demnächst flimmern die Aufnahmen vom Franke’schen Elend über den heimischen Bildschirm. „Was wollt ihr hier? Nehmt euch eine Schippe!“ Der Alte ist zu klein und zu schwach, um beachtet zu werden, die meisten hören ihn nicht, ununterbrochen fahren Autos vorbei.

Im benachbarten Tal schäumt die Müglitz, sie hat dem Städtchen Glashütte den Garaus gemacht, eigentlich ist das ganze Tal verwüstet. In Dohna lodern Feuer, alles, was halbwegs verbrennt, wird hineingeworfen: Zäune, Laub, Äste, Reste eines Bauwagens. Und der alte Neubert lehnt an seinem Haus. Barfuß steht er da und in Jeans, um den Bauch ein geflochtener Gürtel: ein Patriarch mit schlohweißem Haar, der im Mai sein Zweiradgeschäft an den Sohn übergeben hat. Vorher wurde der ganze Laden aufgemöbelt. Jetzt hat der Fluss eine Hausecke fortgespült.

Aus der Straße ist in Stunden ein Flussbett geworden. Geröll, Scherben, Eisenteile, rote, gelbe und schwarze Leitungen und Krater haben den Asphalt ersetzt. Die Fahrräder haben sie noch ins Dachgeschoss bringen können. Auf der letzten Asphaltzunge stehen eine Biertischgarnitur und ein Grill. Ringsum wirbeln Frauen, Kinder, Halbwüchsige und Männer – die halbe Fußballmannschaft von „Chemie Dohna“ ist da. Vater und Sohn Neubert sind im Verein. Zwei Dutzend Leute schleppen Steine aus dem Flussbett, das eine Straße war, und waschen verschlammten Hausrat. Manche Mutter sieht mit den Steinen aus wie eine Trümmerfrau. „Ja, da kann man den Hut ziehen“, schwärmt Neubert senior. „Pause!“, ruft einer. Brot wird gereicht, Wasser und Bier. Da sitzen sie und lachen, und der alte Neubert schiebt sich heran. Die Distanz ist verschwunden – auch hier. Nur Stoff für Videoamateure gibt die Szene bei den Neuberts nicht her

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