Alltag nach Erdbeben in Haiti: Überleben im Chaos
Sie campieren in der Hauptstadt in Zeltstädten. Sie beten gegen ein neues Erdbeben an. Wie die Haitianer ihren Alltag organisieren.
Auf dem Place Saint Pierre wird gebetet. In den Morgenstunden beginnen melodische Gesänge. Und auch in der Nacht wird zum Allmächtigen gefleht, dass er nicht wieder die Erde so erbeben lassen möge wie vor sechs Tagen. Mut machen ist angesagt in all dem Chaos, in dem Haiti zu versinken droht. Hilfe von anderen haben die Menschen auf dem Platz nicht zu erwarten.
"Wo sollen wir denn hin?", fragt Jean-Bernard Tata verzweifelt, der mit seinen Kindern auf einer Decke kauert. Der Fuß des kleinsten Kindes ist dick geschwollen. Vielleicht ist er gebrochen. Dem Kind ist ein Steinbrocken auf den Fuß gefallen. Seit Dienstag lebt Tata in der Zeltstadt im Zentrum von Pétionville, die immer weiter anwächst. "Ich lebe oberhalb von Pétionville. Mein Haus ist zerstört. Hier gibt es keine allzu großen Bäume oder Gebäude, die gefährlich sind." Rund tausend Menschen campieren inzwischen auf dem Platz. Die Grünanlage an der Sankt-Peter-Kirche ist auch an normalen Tagen ein Anziehungspunkt für die Menschen der Kleinstadt oberhalb von Port-au-Prince. Jetzt stehen hier Blumenverkäufer und bieten ihre Pflanzen an und Geldwechsler wehen wie auch an anderen Tagen mit ihren Banknotenbündeln. Dass eine Katastrophe stattgefunden hat, merkt der Gourdes-Tauschende nur daran, dass die Geldwechsler nur noch 37 statt 42 Gourdes für einen US-Dollar zahlen.
Auch in der Zeltstadt, in der Tata eine Bleibe gefunden hat, sind die Preise gestiegen. Lauthals streitet sich ein Cola-Verkäufer mit einem Durstigen um den Preis. "Wieso willst du jetzt 20 Gourdes mehr?", schimpft der Käufer. "Sie sind schließlich eisgekühlt", wird er angeblafft. In so einer Situation versucht jeder, sein Geschäft zu machen. Für einen Teller mit Reis und Bohnen, angereichert mit einer Fettsoße mit Hühnchenknochen, muss der Hungrige jetzt fast das Doppelte zahlen wir vor dem Erdbeben. Männer mit Kameras lungern vor den Büros der Hilfsorganisationen und den Hotels, in denen Journalisten Unterkunft gefunden haben, und bieten, mit einer winzigen Digitalkamera ausgerüstet, ihre Dienste als Fotografen an. Andere dienen sich mit ein paar Brocken Englisch als Dolmetscher an. Jeder versucht, über die Runden zu kommen.
In der Innenstadt von Port-au-Prince wächst mit jedem Tag vor dem zusammengestürzten Präsidentenpalais die Menge der Obdachlosen an. Während dort die Plätze knapp werden, ist der Place dItalie vor dem zerstörten Bürgermeisteramt menschenleer. Niemand will in der Nähe des Meeres campieren. Immer wieder laufen die Menschen in panischer Angst durch die Straßen, weil sich Gerüchte über eine Sturmwelle breitmachen.
In der Rue Pavée schiebt ein Schreiner auf einer Schubkarre einen Holzsarg vor sich her. Noch immer findet man Leichen auf den Straßen, Verletzte warten auf den Gehwegen auf den Abtransport in die wenigen Hospitäler, die überhaupt noch funktionstüchtig sind. Die Leichen werden inzwischen mit Schaufelbaggern von der Straße geholt und im Norden von Port-au-Prince in Massengräbern beigesetzt. Seuchenprävention ist jetzt das Wichtigste, sagt ein spanischer Hundeführer, der mit seinem Trupp in einer Mädchenschule nach Überlebenden sucht. "Wir haben wenig Hoffnung." Aber es geschehen doch noch Wunder. Immer wieder werden Überlebende aus den Trümmern geborgen.
Auf der Route des Frères stauen sich die Fahrzeuge bis auf die Anhöhen von Pétionville hinauf. Laut hupend und mit waghalsigen Überholmanövern versuchen einige Jeepfahrer mit auf dem Dach festgezurrten Koffern in Richtung Grenze vorwärtszukommen. Die reicheren Haitianer zieht es in die Dominikanische Republik.
Im Zentrum rund um die Kirche St. Anne kämpfen die Menschen um einen Platz auf einem der Tap-Tap-Personentransportlaster. Sie wollen mit Koffern und Teilen des Hausrats aus der Stadt fliehen. "Was soll ich denn noch hier? Ich habe alles verloren", sagt ein Mann.
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