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Alles eine Frage der Zeit

Im richtigen Moment muss der richtige Akteur mit richtiger Idee bei richtigem Wetter am richtigen Ort sein. Selten wurden Binsenweisheiten so zementiert wie bei Frankreichs 2:1-Finalsieg gegen Italien

aus RotterdamBERND MÜLLENDER

Schon die Wahl des Endspiel-Ortes und Zeitpunktes: purer Zufall, reines Glück. Woanders in Benelandien gingen am Sonntagabend gigantische Unwetter nieder, die das Stadion de Kuip („Die Schüssel“) erbarmungslos geflutet hätten: Kein Mensch wäre Europameister geworden und die Hälfte der Zuschauer in dieser merkwürdig offenen Schüssel, die nur einen Randdeckel hat, komplett aufgeweicht. Bis hin zu Königin Beatrix mit ihrer pokalgroßen Turbanfrisur, die wir im kaum überdachten Ehrengastbereich gern gewässert gesehen hätten. Rotterdam aber blieb trocken. Und Frankreich durfte gewinnen.

Dieses Finale wird als eines der deutungsschwangersten Matches in die Fußballgeschichte eingehen. Hätte-Würde-Wenn auf höchstem Niveau, in jeder Hinsicht. Was nahe liegt, wenn ein Spiel in der 94. Minute spektakulär gekippt und mit krachendem Golden Goal nach 103 Minuten entschieden wird.

Warum die einen und die anderen nicht? Frankreichs Premier Lionel Jospin deutete landsmannschaftlich und vordergründig: „Der Offensivgeist hat die Oberhand über die Defensivkunst behalten.“ Stimmt das? Die Italiener, lange nicht so destruktiv wie ihr Ruf, hatten erstmals im Turnier mehr Ballbesitz als der Gegner. Und haben erstmals verloren. Aber deshalb? Ihr Coach Dino „Die Maske“ Zoff, der sich eine spektakuläre Emotionsexplosion erlaubte („Ich fühle mich sehr schlecht“), ordnete passender ein: „Wir haben in der Nachspielzeit verloren. Das ist eine ernste Sache. Aber das ist die Natur des Spiels.“

Diese Natur heißt Zufall. Den man freilich herbeizuerzwingen versuchen kann. Frankreichs Trainer Roger Lemerre nutzte den späten Abend zu langen Betrachtungen über das Wohl und Wehe als solches: „Schicksalsschlag bedeutet nicht immer Verhängnis“, wusste er, sondern „manchmal auch Glück“, und das „musst du festhalten, wenn du es findest“. Man muss dem Schicksal eine Chance geben: „Ein Wunder“ ereignet sich nur, „wenn man es herausfordert“.

Und alles muss beizeiten passieren. „Die Italiener“, wusste Frankreichs Didier Deschamps, „feierten doch schon den Sieg, das hat uns nochmals wachgerüttelt“. Sein Trainer, der schon „das Schlimmste gefühlt“ hatte, assistierte: „Auch wenn du nur noch eine Sekunde hast, musst du diese eine Sekunde volle Pulle spielen.“ Und globaler: Dieses Spiel sei zwar „das Aufeinanderprallen zweier Fußballkulturen gewesen“, aber insgesamt „ein Sieg für den Angriffsfußball überhaupt“. Was stimmt. Aber auch weil die Squadra Azzurra nicht nur erneut gummiwandartig um den überragenden Nesta verteidigte, sondern auch ihren offensiven Teil zum Finale beitrug. Mit einem tollen Totti, dessen variable Positionswechsel manch französische Schwerfälligkeit dokumentierten. Mit variantenreichen Zonenblocks gegen Meister Zidane, den die Italiener alle aus der Serie A kennen. Mit frecher Selbstsicherheit und einigen tollen Konterchancen, die tragischerweise Del Piero hatte (siehe unten).

In der Nachspielzeit war selbst Dino Zoff aus seiner Starre erwacht: Nicht dass er voreilig gefeiert hätte, um Himmels willen, aber wie ein Lebender hatte er gestikuliert, Wege gewiesen, wofür er zeitweilig sogar die Hände aus den Hosentaschen nahm. Nachher, wieder in seiner angestammten Rolle als Signore Reglos, war er zeitlich verwirrt: „Ja, ein Spiel dauert 120 Minuten.“ Es waren ja nur 103. Ob Italien moralischer Sieger sei? „Nein, nur die Wirklichkeit zählt.“

Der Abend der Randfiguren: Sylvain Wiltord, Einwechselspieler, traf zum Ausgleich. Ein Mann ohne besondere Fähigkeiten. Außer einer: Tore machen. Gern irgendwie. Hauptsache: Rein damit. So wurde er in Frankreich bester Toreerzieler 1999. Was mag Knipser auf Französisch heißen? Robert Pires, Einwechselspieler und nie recht aufgeblühtes Talent, schon wegen Einsatzmangels beschimpft von Mitspielern, hatte eine große Szene und flankte punktgenau. David Trezeguet, Einwechselspieler, machte den Schuss seines Lebens. Volley. Krachend. Drin. Aus. Turnier vorbei.

Schon einiges an schicksalhaftem Zufall. „Die Effizienz von Trezeguet ist unübertroffen“, meinte Trainer Lemerre. Sturmpartner Thierry Henry, erneut sausewindig gut, wusste bei aller Freude („Wahnsinn, was jetzt schon auf den Champs Elysées los ist“) zu erinnern, dass Trezeguet, der Angreifer des AS Monaco, vor gut einem Jahr überhaupt erst das Tor gegen Island geschossen hatte, ohne das Frankreich womöglich gar nicht dabei gewesen wäre bei der EM, erst recht nicht, wenn man an das Spiel gegen den Giganten Andorra denke, wo auch erst in den letzten Minuten das duselige 1:0 gelang. Nie aufgeben, die Fußballformel überhaupt: „Solange du noch Zeit hast, kannst du noch was schaffen.“ Erklärungen, Deutungen, Fragezeichen, warum alles so kam. Und dass es auch ganz anders hätte kommen können. Auch mit dem Himmel: Der färbte sich so auffällig, als die Franzosen sich gerade ans Goldengoalen machten. War es gülden oder doch orangig als kleine Genugtuung für Holland? Deren Halbfinal-Peiniger waren geschlagen. Und die Oranjes haben (in der Vorrunde) den Champion 2000 als Einzige geschlagen.

Frankreich: Barthez - Thuram, Blanc, Desailly, Lizarazu (86. Pires) - Vieira, Deschamps - Djorkaeff (76. Trezeguet), Zidane, Dugarry ( 58. Wiltord) - Henry Italien: Toldo - Iuliano, Nesta, Cannavaro - Pessotto, Di Biagio (65. Ambrosini), Albertini, Maldini - Fiore (53. Del Piero) - Delvecchio (86. Montella), Totti Zuschauer: 49.000; Tore: 0:1 Delvecchio (55.), 1:1 Wiltord (90.), 2:1 Trezeguet (103.)

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