: Alles eine Frage der Perspektive
■ Missverstandener Minimalismus: Das Programm des Underground New York-Abends stieß am Freitag beim Publikum zu Unrecht auf geteilte Reaktionen
So hatte man sich gelegentlich die Anfänge der musikalischen Moderne vorgestellt: kontrovers. Vor Beginn des Abends glaubte mancher bereits zu wissen, dass sich die halbwegs gefüllten Reihen im Studio 10 des NDR wohl beträchtlich leeren würden. Schien es doch, als seien einige der Anwesenden eher wegen des gastgebenden Schleswig-Holstein Musik Festivals gekommen, weniger des Programms wegen. Bereits das erste Stück, La Monte Youngs arabic numeral (any integer), ließ die Geister sich scheiden. Das Werk ist ein beeindruckendes Beispiel für musikalischen Minimalismus: Zwei Flügel, zwei Becken und ein Gong werden in regelmäßigem Abstand gleichzeitig angeschlagen, wie häufig, ist jeweils festzulegen. An diesem Abend waren es 997 solcher Geräuschereignisse, Gesamtlänge rund eine Stunde. In deren Verlauf kam es zu ersten Fluchtbewegungen im Publikum, teils begleitet von offener Empörung. Die Gebliebenen applaudierten umso mehr – ein wenig wohl auch sich selbst.
Es folgten kürzere Stücke Morton Feldmans und Terry Jennings', nur vordergründig ereignislos, vielmehr sparsame Aktivitäten repetitiv bis kontemplativ angeordnet.
Nach der Pause stand ein weiteres Werk Jennings' auf dem Programm, bei dem die Cellisten Curtis und Rott in den Ecken spielend, dem Publikum abgewandt, gedehnte, verhaltene Zweiklänge spielten – wie sich überhaupt die zweite Konzerthälfte eher stehend-flächigen denn perkussiv-getupften Ideen akustischer Sparsamkeit widmete.
Auf Christian Wolffs frühes Duo for Violins folgten die spektakulären Perspectives for La Monte Young des Cage-Schülers Richard Maxfield. Hier bespielten Curtis und Rott nicht eigentlich dafür vorgesehene Teile ihrer Instrumente, begleitet von elektronischem Lärm vom Zuspielband.
Der Bogen schloss sich mit einem weiteren Beispiel des Youngschen Minimalismusverständnisses, Composition 1960 £7, einer Stunde stoischen Drones. Zwei Celli und zwei präparierte E-Gitarren spielen nichts als eine langgezogene Quinte. Einzig minimale Obertonverschiebungen und -oszillationen lassen sich mit zunehmender Dauer erahnen – bis hin zum Eindruck von Melodie.
Eine Frage der Perspektive: Was manchem als Scharlatanerie erschien, war anderen bemerkenswerte (Ausdauer-)Leistung und – tat mensch sich den Gefallen, das konzeptionell aufschlussreiche Programmheft zu lesen – fundiertes kompositorisches Anliegen. Das bot der Abend überzeugend vorgetragen, und völlig zu Recht ernteten Curtis und Rott, Imig, Grant und Hahn viel aufrichtigen Applaus derjenigen, die diese Reise durch die New Yorker Avantgarde der frühen 60er Jahre bis zum Ende mitgemacht hatten.
Alexander Diehl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen