: Allein mit der Verzweiflung über diesen Wahnsinn
Flucht, Exil, Rückkehr, Theaterarbeit: Die ukrainische Schauspielerin und Musikerin Iryna Lazer lassen die Traumata des Krieges nicht los. „Wenn du innehältst, trifft dich die Realität schmerzhaft“, sagt sie. Ein Porträt

Von Elisabeth Bauer
Wird das Sprechen über Krieg und persönliche Traumata leichter, wenn Zeit vergeht? 2022 erarbeitete Iryna Lazer alias Mavka im Berliner Exil ein Musiktheaterstück auf der Grundlage von Zeugnissen aus der russischen Besatzung – eine Kampfansage an den Wahnsinn der Kriegsrealität. Als das Stück 2025 wieder in Berlin gastiert, sieht die ukrainische Sängerin und Regisseurin sich mit der Frage konfrontiert, was das Stück über drei Jahre nach Beginn des großen Krieges noch bewegen kann.
„Wir flohen, die Kampfjets vertrieben uns aus unserem Haus. Mein Zuhause und die Häuschen auf meiner Straße wurden von den ‚Frieden‘ bringenden Maschinen des Todes eingenommen. Ich will nicht wissen, was passiert wäre, hätten wir es nicht geschafft zu entkommen – wie so viele andere. Zwar haben wir unser Haus verloren, aber wir leben! Wir kämpfen für das Leben, unser Land, für die Ukraine!“
Diese Notizen veröffentlichte Iryna Lazer am 25. Februar 2022 zusammen mit Aufnahmen einer Überwachungskamera auf Instagram: Es ist ein Zeitzeugnis ihrer Flucht aus Hostomel, einem Vorort von Kyjiw, von der Ausweitung des russischen Angriffskriegs. In diesen Tagen rückte die russische Armee auf Kyjiw zu. Hostomel, Irpin, Butscha – dies sind nur einige Siedlungen, die in diesen Tagen eingenommen und schwer zerstört wurden, wo die Besatzer brutalste Kriegsverbrechen verübten. Auch unweit des Hauses der Lazers wurden Zivilist*innen erschossen – Verbrechen, bei deren Aufarbeitung Iryna Lazers Mann Taras mitgewirkt hat. Anfang April, mit Befreiung des Kyjiwer Umlands, wurde das Ausmaß der russischen Gewalt offensichtlich: wahllose Erschießung von Zivilist*innen, Vergewaltigungen, Gräueltaten.
Der Musikerin Iryna Lazer gelang mit ihrer Tochter die Flucht ins temporäre Exil. Ihre Fluchtgeschichte – die Route führte zunächst in die Westukraine und dann, ohne Mann, über Polen nach Berlin – brachte sie in der Reihe „Stories from Exile“ im Herbst 2022 am Berliner Ensemble auf die Bühne. Die studierte Sängerin und Schauspielerin, die seit 2013 als Mavka auftritt, nutzte Dutzende Gelegenheiten, um dem ukrainischen Schicksal auf Demos und Solidaritätskonzerten Gehör zu verschaffen. Ihr Überlebensprinzip: arbeiten, um nicht nachdenken zu müssen – über die Distanz zu ihren Nächsten, über die historische Katastrophe, die ihre Heimat existenziell bedroht und in ein lebensgefährliches Kriegsgebiet verkehrt.
Wie schwer ihr der Umgang mit der eigenen traumatischen Kriegserfahrung wirklich fiel, erzählt sie im (Video-)Interview: „Obwohl ich nicht gesehen habe, wie jemand getötet wird, keine familiären Verluste beklagen muss, verlor ich die Kontrolle über meinen Körper, wenn es darum ging, auf der Bühne über meine Flucht zu sprechen“, beschreibt die 1983 in Tscherniwzi geborene Lazer diese innere Blockade. „Ich kam zur Erkenntnis, dass ich mit den Geschichten anderer Menschen arbeiten und sie als meine eigenen erleben müsse: als Regisseurin, als Schauspielerin.“ Im anhaltenden Kriegszustand gelang es ihr nicht, sich des eigenen Traumas anzunehmen. „Ich kann ihm nicht entfliehen, weil es mir in gewisser Weise an innerer Stärke fehlt.“
Um dennoch künstlerisch mit der ukrainischen Realität arbeiten zu können, begann Lazer, die eigene Kriegserfahrung mit dokumentarischen Zeitzeugnissen zu verflechten. Am Berliner TD-Theater entwickelte sie ein Stück für zwei Charaktere, Anja und Ninka, verkörpert durch sie selbst und den Schauspieler Ivan Doan. Das Stück „Shalene/Ver-rückt“, das im Mai 2023 uraufgeführt wurde und anschließend in Spielstätten in Deutschland und Polen gastierte, erzählt Geschichten aus der Besatzungszeit, von Vergewaltigung, tragikomischen Alltäglichkeiten oder Glücksmomenten über die Befreiung.
Die Regisseurin verarbeitete Zeugnisse mehrerer Dorfbewohnerinnen, die aufgrund ihres Alters zwei Angriffskriege erleben mussten, aufgezeichnet von Taras Lazer und Roman Synchuk für die NGO Ukraine War Archive. Wenn einen die Kriegserfahrung eines lehrt, dann wohl, wie angreifbar Wahrheiten sind: „Werke über den Krieg müssen vor allem eines sein: ehrlich“, sagt die zierliche 42-Jährige bestimmt.
Zentrales Element des audiovisuellen Schauspiels, in dem ukrainische und deutsche Volkslieder eine elektronische Soundcollage bilden, ist das Lied „Schalene“ (Verrückt) – es zieht sich als wiederkehrendes Motiv durch den einstündigen Theaterabend. Darin wird ein Mädchen im Traum von einer zerstörerischen Gewalt heimgesucht: Für Lazer eine Analogie für das ursprüngliche russische Vorhaben, die Ukraine in drei Tagen einzunehmen. „Auch wenn es ihnen nicht gelang, sind die Wunden ungemein tief.“
Diese Wunden erscheinen beim Gastspiel am Berliner Ensemble anlässlich des dritten Jahrestags des Vollangriffs in Form von kaleidoskopartigen Skizzen auf der Leinwand: Iryna Lazers mal verträumter, mal kraftvoller Gesang haucht der Szenerie Leben ein. Spielszenen wechseln sich ab mit irrsinnigen, aber lebensrettenden Sicherheitsanweisungen aus dem Kriegsalltag – zeichnerisch und multilingual auf die Bühne projiziert, spiegeln sie den Wahnsinn des Bösen, der in der Ukraine eine zerstörerische Allgegenwärtigkeit besitzt.
Das Stück, für das Lazer mit Musiker Daniil Zverkhanovskyi und Theatermacherin Alina Danylova kooperierte, führt in einen Schlaf-Wach-Zustand latenter Traumaarbeit, in dem belastende Kriegserfahrungen zwar noch nicht überwunden, jedoch bezeugt, künstlerisch vermittelt und schmerzlich nachvollziehbar gemacht werden.
Trotz des unhaltbaren Kriegszustands setzte die Sängerin Anfang 2024 der emotionalen Zerrissenheit zwischen den Orten ein Ende und kehrte zurück ins Kyjiwer Umland. Sie erzählt: „Ich habe momentan das große Verlangen, unsere Wohnung gemütlich herzurichten, auch wenn es unangemessen erscheint. Du gewöhnst dich an die ständige Gefahr – aber wenn du innehältst, trifft dich die Realität schmerzhaft.“
Das Leben im Krieg trage oft surreale Züge: Andauernder Drohnen- oder Raketenbeschuss sorgten für nervtötenden Schlafentzug – und manchmal dröhnten auf dem Schulhof neben der Nationalhymne plötzlich auch die Sirenen. „Wie im Film, einfach unwirklich“, so Iryna Lazer.
Nach ihrer Rückkehr zog die Familie innerhalb Hostomels um – einen Kilometer weiter in Richtung Butscha. „Hier hören wir den Luftalarm von Hostomel und Butscha gleichzeitig – mit Stereo-Effekt, der eine ertönt verzögert.“ Dass auch Sirenen etwa vor Drohnenattacken nicht immer schützen, musste die Familie im März ganz unmittelbar erfahren: Ihr Haus, das unter der Besatzung verwüstet und beschädigt worden war und in dem nun die aus Cherson geflohenen Schwiegereltern wohnen, wurde vom Splitterflug einer unweit eingeschlagenen Drohne getroffen. Verletzt wurde niemand.
Während des Gesprächs schwenkt Lazer die Kamera hinaus aus dem Küchenfenster: Ukrainischer Kiefernwald und ein Streifen Jungbäume erscheinen auf der verpixelten Bildfläche. Die Idylle trügt, so gut wie alle Wälder im Norden der Kyjiwer Region seien nach der Tschernobyl-Katastrophe künstlich „zum Schutz“ gepflanzt worden und auf die eine oder andere Art kontaminiert. „Entweder durch Tschernobyl oder durch die russische Invasion“, meint Taras Lazer, der in der Gegend – in niedergebrannten Dörfern und verminten Wäldern – mitgeholfen hat, Kriegsverbrechen zu dokumentieren.
Vor dem Gastspiel von „Shalene/Ver-rückt“ am 24. Februar stellte sich Iryna Lazer die Frage, was es bedeute, das Stück drei Jahre seit Beginn der Vollinvasion, fast zwei Jahre seit seiner Premiere erneut zu spielen. „Das Stück ist ursprünglich, trotz aller Grausamkeiten, lebensbejahend. Aktuell hält die Realität jedoch wenig Hoffnung für die Zukunft bereit.“ Im musikalischen Hauptmotiv bittet das Mädchen vergeblich um Hilfe gegen die fremde Gewalt – ein Bild, in dem Lazer heute die Ukraine erkennt. „Am Ende sind wir allein mit unserer Verzweiflung und Wut über diesen Wahnsinn, der uns angreift.“
Die Komponistin, Sängerin und Regisseurin, deren Musik weiterhin im Kyjiwer „Theater am linken Dnipro-Ufer“ im Stück „Dim“ (Haus) zu hören ist, würde wohl nicht auftreten, glaubte sie nicht auch an das aktivierende Potenzial ihrer Musik. „Es geht um Menschen, um ihre Reaktionen“, sagt sie. „Darum, wie wir versuchen, etwas zu überwinden, das man sich kaum vorstellen kann.“ Wenn nur ein Mensch durch das Stück oder ihre Musik seine Meinung ändere, habe sich die Mühe gelohnt. „Es gibt ja Unterstützung, aber manchmal scheint es, als vertiefe sich die Einsamkeit unseres Kampfes.“
Dieser Kampf ums Leben beginnt in der Kriegsrealität schon mit dem Aufstehen: Manchmal müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass es gut sei, morgens keinen Luftalarm zu hören. Die widersprüchlichen Reaktionen, das scheinbar unpassende Lachen ihrer Theatercharaktere Anja und Ninka könne sie nun – nach über drei Jahren des Wahnsinns – besser verstehen und wiedergeben. „Es ist, als hätten sich die Konzepte ‚gut‘ und ‚schlecht‘ verkehrt: Alles ist durcheinander – und das Trauma dauert an.“
Am 26. Juni findet bei den Berliner Festspielen die Uraufführung des Theaterstücks „Confronting the Shadow“ von der ukrainischen Regisseurin Tamara Trunova statt, für das Iryna Lazer die Musik geschrieben hat.
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