Algerisch-französische Beziehungen: Autor drohen zehn Jahre Haft
Der inhaftierte Schriftsteller Boualem Sansal wird zum Spielball politischer Spannungen. Versöhnung zwischen Paris und Algier ist nicht in Sicht.

Die Altlasten des Kolonialismus erschweren die Verständigung zwischen den beiden Staatsführungen. Neue Streitpunkte lassen alte Wunden aufbrechen. Mehr als 60 Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg stehen Frankreich und Algerien jetzt nur noch einen Schritt vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen.
Ausgangspunkt der Verstimmung war eine Erklärung von Staatspräsident Emmanuel Macron, der sich im Juli 2024 in einem alten territorialen Streit für die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko ausgesprochen hatte. Das wurde von den nationalistischen Machthabern in Algier als extrem unfreundlich oder gar feindselig betrachtet. Und es dauerte nicht lange, bis die Regierung eine Gelegenheit fand, Frankreich diesen Affront heimzuzahlen.
Im November wurde der bekannte französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal bei einem Besuch in Algerien verhaftet. Er hatte sich kritisch über das Regime in Algier geäußert und ebenfalls im Streit um die Westsahara für Marokko Stellung bezogen. Das gilt quasi als Landesverrat. Trotz Protesten und einer Solidaritätskampagne in Frankreich bleibt der mit schweren Gesundheitsproblemen kämpfende Sansal bis heute in Haft und ist zum Spielball der politischen Spannungen geworden. Französische Autoren und Verlage, die sich für Sansals Freilassung einsetzen, fürchten um sein Leben.
Migrationspolitik im Hintergrund des Konflikts
In diesem politisch motivierten Prozess hat die algerische Staatsanwaltschaft am Donnerstag zehn Jahre Haft für den 80-Jährigen gefordert, weil dieser es gewagt habe, die „Integrität des nationalen Territorium“ in Frage zu stellen. Das Urteil im Schnellverfahren wird für den 27. März erwartet. Präsident Macron setzte sich bei seinem Amtskollegen Tebboune für Sansal ein, was in Algerien jedoch wieder als Versuch französischer Einmischung empfunden wird. Zudem ließ Frankreich den 59-jährigen algerischen Influencer Doualem (Boualem Naman) als Sicherheitsrisiko festnehmen und in Abschiebehaft stecken.
Im Hintergrund des eskalierenden Streits steht die französische Migrationspolitik. Am 14. März schickte Innenminister Retailleau den algerischen Behörden eine Liste von 60 Personen, die Frankreich loswerden möchte. Es handelt sich um algerische Staatsangehörige, die Frankreich wegen ihrer Radikalisierung als Islamisten, nach Verurteilungen wegen Gewalt, Diebstahl oder Drogenhandel als besonders „gefährlich“ einstuft.
Algerien hat ihre Rücknahme unter diesen Bedingungen mit Entrüstung abgelehnt. Das Vorgehen des französischen Ministers werde in Algerien als „Beleidigung“ und als „Diktat“ (der Ex-Kolonialmacht) interpretiert, sagt der Politologe Hasni Abidi vom Forschungszentrum der arabischen und mediterranen Welt (Cermam) in der französischen Tageszeitung Libération. Offensichtlich sei doch, dass Retailleau die ganze Polemik für seine persönlichen politischen Ziele benutze.
Für eine reguläre Rückführung aus Frankreich muss Algerien die Zustimmung geben und jedes Mal einen „konsularischen Passierschein“ ausstellen. Das aber kann lange dauern und wird immer wieder abgelehnt. Da Retailleau weiß, dass in den letzten Jahren freundliche Anfragen in solchen Anliegen häufig erfolglos blieben, hat er sein Schreiben mit einem Ultimatum garniert: Wenn Algier seinen Wünschen nicht in „vier bis sechs Wochen“ nachkomme, werden schärfere Vergeltungsmaßnahmen folgen.
Debatte um Abschiebung von Straftätern
Retailleau, der sich um die Parteiführung der Konservativen (Les Républicains) bewirbt und bei den Präsidentschaftswahlen von 2027 als Kandidat der Rechten antreten will, steht unter Druck: In der Argumentation der fremdenfeindlichen extremen Rechten sind die erfolglosen Abschiebungsversuche der Beweis dafür, dass die Regierung in Paris in der Verschärfung der Sicherheitspolitik nichts erreiche und sich von Algier „demütigen“ lasse.
Auch von Seiten der Medien kommt Druck: Schlagzeilen machen die Probleme bei der Rückführung von Algeriern im Kontext von Gewaltverbrechen und vor allem einem terroristischen Attentat. Am 22. Februar tötete der 37-jährige Brahim A. aus noch ungeklärten Gründen bei einer Messerattacke in Mulhouse im Elsass einen aus Portugal stammenden Rentner und verletzte sechs weitere Menschen.
Die Information, dass die französischen Behörden zuvor offenbar 14 Mal vergeblich versucht hatten, den 2014 illegal eingereisten Algerier abzuschieben, sorgte für Empörung. Für Premierminister Bayrou stand fest: „Zu diesem Attentat wäre es nicht gekommen, wenn Algerien seine Verpflichtungen (zur Rücknahme algerischer Staatsangehörigen) respektiert hätte.“
Da sein Ultimatum nichts gebracht hat, will Retailleau zu weiteren Druckmittel greifen: Frankreich hatte die Regeln für die Erteilung von Einreisevisa für Algerier*innen verschärft, jetzt sollen als nächstes womöglich die Privilegien für Diplomat*innen und ihre Familien aufgehoben werden.
10 Prozent in Frankreich haben algerische Wurzeln
Danach, droht Retailleau, könnte das Abkommen von 1968, das algerischen Bürger*innen eine erleichterte Einreise ermöglicht, außer Kraft gesetzt werden. Damals brauchte Frankreich dringend Arbeitskräfte, für eine „Vorzugsbehandlung“ sieht Retailleau heute keinen Grund mehr. Noch weiter gehen möchte Justizminister Gérald Darmanin: Er schlägt vor, als nächsten Schritt vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen den französischen Botschafter aus Algier zurückzurufen.
Was immer Frankreich nun plant, kann die Beziehungen nur noch weiter verschlechtern und das Klima des Zusammenlebens belasten: 10 Prozent der heute 68 Millionen Einwohner*innen Frankreichs haben laut dem Magazin Le Point algerische Wurzeln oder Familienbande. In Frankreich Studierende aus Algerien müssen befürchten, dass sie keine Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung mehr erhalten. Auch die Visa für Familienbesuche von jenseits des Mittelmeers werden zum Streitpunkt.
Um die Toleranz und Zusammenarbeit bangt der algerische Rektor der Großen Moschee von Paris, Chems-eddine Hafiz. Bisher war der Vorsteher der 1926 gegründeten und vorwiegend von Algerien finanzierten Moschee der wichtigste Gesprächspartner der Französischen Republik für den Dialog mit dem Islam, jetzt sitzt er zwischen den Stühlen.
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